BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
Angesprochene, ein untersetzter Mann Mitte fünfzig, dem die fehlenden Stunden Schlaf deutlich anzusehen waren, erhob sich schwerfällig.
Er begrüßte die Anwesenden mit leiser Stimme. »Die hygienischen Probleme und Seuchengefahr durch Tierkadaver sind nur ein Aspekt aus Sicht unseres Zuständigkeitsbereichs. Prinzipiell ist das deutsche Gesundheitswesen eines der besten der Welt. Auch auf Krisen sind wir gut vorbereitet, aber nicht auf eine diesen Ausmaßes. Lassen Sie mich kurz skizzieren, was da draußen gerade passiert. Zum einen sind da die Krankenhäuser. Sie sind mit Notstromsystemen ausgerüstet, die den Betrieb je nach Haus für achtundvierzig Stunden bis zu einer Woche sicherstellen. Die ersten stehen bereits jetzt vor sehr ernsthaften Problemen. Manche beginnen mit der Verlegung von Patienten in andere Krankenhäuser. Dort werden in Kürze die Betten knapp werden. Und auch in den Kliniken mit genug Reserven für die nächsten Tage herrscht unter Notstrombedingungen längst kein Regelbetrieb mehr.«
Bilder von Menschen auf Intensivstationen, mehr Schläuche und Maschinen als Körper.
»Intensivstationen müssen zurückgefahren werden, genauso wie Abteilungen für Frühgeborene.«
Beim Anblick der nackten, roten, schrumpeligen Babys mit durchsichtiger Haut, unter der man jedes Äderchen sah, in den kleinen Glaskuben zog sich Michelsens Hals zusammen.
»In manchen Häusern können die Fahrstühle nicht mehr oder nur eingeschränkt benutzt werden. Was das für die Patienten oder gar für die Verlegung Bettlägeriger bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Die Ambulanzen sind doppelt betroffen.«
Ein Wartesaal voller Kranker und Verletzter. Michelsen konnte sich die Verzweiflung dieser Menschen gut vorstellen. Sie merkte, wie sie ihre Lippen zusammenpresste und ihre Kiefermuskeln arbeiteten.
»Auch hier kann man nicht mehr auf alle Geräte zurückgreifen, die man sonst hat. Zudem kommt es durch ausgefallene Ampeln zu mehr Unfällen im Straßenverkehr, aber aufgrund des Stromausfalls auch in den Privathaushalten, also zu mehr Verletzten, die behandelt und versorgt werden müssen. Die Rettungsdienste sind mittlerweile hoffnungslos überlastet. Eine weitere Gefahr geht bei dieser Witterung von der Kälte aus. In den kommenden Tagen werden wir ein sprunghaftes Ansteigen viraler Infekte erleben. Wenn wir Pech haben, verstärkt sich auch die Grippewelle. Doch zu ihrem Hausarzt können die Betroffenen nur selten gehen. Viele Ärzte erreichen ihre Praxen wegen Treibstoffmangels und stillstehenden öffentlichen Verkehrsmitteln entweder gar nicht oder können ohne Computer nur wenig ausrichten. Bei den Apotheken stehen viele Patienten vor dem nächsten Hindernis. Diese haben entweder geschlossen oder dasselbe Problem wie alle anderen Läden. Ihre elektronischen Kassen funktionieren ebenso wenig wie ihre Lagerverwaltung und Bestellsysteme. Das heißt erstens, dass Patienten momentan nur bar bezahlen können. Da jedoch – wie später noch ein Kollege ausführlicher erläutern wird – auch die Bargeldversorgung durch Banken und Geldautomaten zunehmend geringer wird, haben die meisten irgendwann nicht mehr genug in der Brieftasche. Die Apotheken verweigern daher schlicht und einfach den Verkauf der notwendigen Mittel. Das können und werden wir so schnell wie möglich durch Notverordnungen ändern müssen. Die rechtlichen Möglichkeiten dazu haben wir. Aber selbst dann gehen den meisten Apotheken nach wenigen Tagen die Arzneien aus, weil sie keine neuen geliefert bekommen. Besonders hart trifft das chronisch Kranke, die auf die regelmäßige Einnahme angewiesen sind, denken Sie etwa an Herzkranke oder Diabetiker.«
Torhüsen trank einen Schluck Wasser, dann fuhr er fort. »Überhaupt sind chronisch Kranke in dieser Situation besonders gefährdet. Tausende Menschen in Deutschland etwa müssen regelmäßig zur Dialyse, viele von ihnen täglich. Die meisten Dialysezentren sind für einen Fall wie diesen nicht gerüstet. Es sind private Praxen, die ihre Patienten jetzt nur in die Krankenhäuser schicken können. Dort kann man bestenfalls nur die allerschwersten Notfälle übernehmen. Hier drohen uns hundert-, wenn nicht tausendfache menschliche Katastrophen.«
Michelsen spürte, wie sie auf ihre Unterlippe biss. Vor ein paar Jahren hatte sie in hilfloser Verzweiflung das langsame Sterben einer Freundin an einer unheilbaren Nervenkrankheit begleitet. Wie entsetzlich musste diese Hilflosigkeit erst für Menschen und
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