Blade 02 - Nachtklinge
noch einmal stehen, als sie eine Frau im Schatten eines Trockengestells sitzen sahen. Sie trug ein weißes Gewand mit Perlmuttknöpfen. An ihrer Brust säugte sie eine in Seetang gewickelte Krähe. Der Vogel spähte mit kalten Knopfaugen zu Tycho hinüber.
»Wer bist du?«, fragte Rosalie.
»Die Frage sollte ich euch stellen.«
An Tycho gewandt fuhr die Frau fort: »Sei vorsichtig mit der Last, die du dir aufgebürdet hat. Sie wird nicht von deinen Schultern genommen.«
Er starrte sie an.
»Du trägst meinen Ring. Du läufst an meiner Küste entlang. Du wirst gegen einen Mann kämpfen, der behauptet, er sei mein Meister. Meine Schwester hat mir von dir erzählt.«
»Deine Schwester?«
»A’rial. Sie sagt, du seist Marcos
Schmerzensengel
.«
Der Tonfall der Frau war schwer zu deuten. Klang sie eher belustigt oder niederträchtig?
Sie eilten weiter. Sie setzten über Teiche und Rinnsale hinweg, landeten auf schwankenden Grasbüscheln und rannten allmählich auf festerem Grund. Das Blut des anderen verlieh ihnen große Kräfte. Als die Marschen in festes Land übergingen, verdoppelten sie die Geschwindigkeit.
Achtzig Meilen waren es von Alta Mofacon nach Venedig. Hinter ihnen verschwand das Lager eines Wilderers. Er schickte ihnen einen Pfeil hinterher, der ins Leere surrte. Sie erreichten die Nehrung an Venedigs Lagune.
Wenn er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte, wollte er ihm direkt in die Arme laufen.
»Dort drüben sind Lichter«, sagte Rosalie.
Ein paar Männer drängten sich am schlammigen Ufer um ein altersschwaches Boot. Sie wirbelten herum, als Tycho näher kam, wichen jedoch ängstlich zurück, als er die
Wolfsseele
zog.
»Herr«, sagte der Mann, der eine Fackel hielt. »Wir sind nur einfache Fischer.«
»Und die Seidenballen in eurem Boot sind wohl euer Fang?«
Der Mann sah betreten drein, ein zweiter Fischer fluchte und ein dritter machte Anstalten, sich seitlich an die beiden Ankömmlinge heranzuschleichen.
»Das würde ich nicht tun«, erklärte Rosalie warnend. Als der Mann nicht stehen blieb, war sie in einem Wimpernschlag hinter ihm und hielt ihm die Klinge an die Kehle.
»Gibt es Neuigkeiten in Venedig?«
»Neuigkeiten, Herr?«
Tycho knurrte ungeduldig. »Ich will wissen, was in Venedig vor sich geht.«
»Sie bereiten ein Fest vor«, sagte der Mann. »Im Dogenpalast.«
»Ein großes Fest!«, fügte ein anderer hinzu.
Tycho verbiss sich die Bemerkung, dass in Venedig immer gerade irgendein großes Fest vorbereitet wurde. Mitunter kam es ihm so vor, als würden die Patrizier der Stadt ihre Zeit ausschließlich mit Essen, Trinken und Liebesaffären verbringen.
»Wir sind auf dem Weg zum Dogenpalast«, schaltete sich Rosalie ein.
Tycho warf ihr einen Blick zu. Sie lächelte. »Mein Herr muss so schnell wie möglich in die Stadt. Wenn ihr ihn in einem Boot hinüberfahrt, bezahlt er euch dafür. Andernfalls töten wir euch auf der Stelle.«
Sie entschieden sich für ihr Leben und ersparten es Tycho, das Boot selbst zu segeln. Allein der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Er befahl ihnen, Erde in den Bootsrumpf zu schaufeln, ein Stück Seide von einem Ballen abzureißen, es ebenfalls mit Erde zu befüllen und es auf eine der Sitzbänke zu legen.
Das war besser als nichts.
Drei der Bandenmitglieder sollten mit ihren Fackeln zurückbleiben und dem Anführer den Weg übers Wasser leuchten. Dieser entlud die restlichen Seidenballen und drohte seinen Männern leise zischend, dass etwas Fürchterliches geschehen würde, falls er die Ballen bei seiner Rückkehr verschmutzt oder gar nicht vorfinden sollte.
Tycho war sicher ein reicher Adeliger.
Er hatte ein Schwert, und er hatte ihnen einen Beutel Gold versprochen. Der Anführer reichte Rosalie die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, und wich erschrocken zurück, als sie die Zähne fletschte. »Helft uns beim Ablegen«, befahl Tycho den Männern.
Starke Arme schoben das Boot in die Strömung.
Erst als der Wind das Lateinersegel blähte und das Boot Kurs auf die Lichter in der Lagune nahm, merkte Tycho, wie tief das Gefährt im Wasser lag. Die Wellen schwappten beinahe über die Bordkante. Die Fahrt nach San Pietro dauerte eine Ewigkeit. Ein Blick auf Rosalie sagte ihm, dass sie ebenso litt wie er.
»Wir haben es gleich geschafft.«
»Richtig, Herr. Da vorn liegt schon San Pietro.«
»Setz uns an der nächsten Anlegestelle ab.«
»Herr, die Mönche …«
»Die scheren sich keinen Deut um uns.« San Pietro war das
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