Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
Prolog
Auszug aus dem zweiten Kapitel von Die Cyrga-Affäre: Eine Untersuchung der kürzlichen Krise.
Herausgegeben von der Fakultät für Zeitgeschichte der Universität von Matherion.
Der Reichsrat erkannte zu diesem Zeitpunkt, daß dem Imperium ernste Gefahr drohte – eine Gefahr, auf welche die Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät kaum vorbereitet war. Seit langer Zeit verließ das Imperium sich auf die Streitkräfte Atans, seine Interessen zu vertreten, wenn es zu periodischen Unruhen kam, mit denen in einer gemischten Bevölkerung unter einer starken Zentralregierung stets zu rechnen ist. Doch die Situation, der sich die Regierung Seiner Majestät diesmal gegenübersah, schien nicht von spontanen Demonstrationen einiger unzufriedener Hitzköpfe auszugehen, die sich zu Beginn der Semesterferien, nach den Abschlußexamen, aus den verschiedenen Universitäten auf die Straßen drängen. Solcherlei Demonstrationen ist man gewöhnt, und die Ordnung läßt sich fast immer mit einem Minimum an Blutvergießen wiederherstellen.
Der Regierung wurde bald bewußt, daß es sich diesmal um etwas anderes handelte. Die Demonstranten waren keine jugendlichen Heißsporne, und der bürgerliche Friede kehrte auch nicht wieder ein, als die Universitäten ihre Pforten zu Semesterbeginn wieder öffneten. Die Obrigkeit hätte die Ordnung vielleicht wiederherstellen können, wären die verschiedenen Unruhen das Ergebnis revolutionären Fanatismus' gewesen. Schon die Anwesenheit von Atankriegern kann unter normalen Umständen die Begeisterung selbst der Besessensten dämpfen. Diesmal überschritten die mutwilligen Zerstörungen im Zuge der Demonstrationen jedoch jedes bisher gewohnte Maß. Natürlich bedachte die Regierung des Imperiums zuerst die Styriker in Sarsos mit mißtrauischem Blick. Eine Untersuchung durch styrische Mitglieder des Reichsrats, deren Loyalität zum Thron über jeden Verdacht erhaben war, ergab jedoch zweifelsfrei, daß das Styrikum absolut nichts mit den Unruhen zu tun hatte. Die paranormalen Vorfälle gingen offenbar von noch unbekannten Quellen aus und waren so weit verbreitet, daß unmöglich vereinzelte styrische Renegaten dafür verantwortlich sein konnten. Die Styriker vermochten nicht, die Urheber ausfindig zu machen, ja, sogar der legendäre Zalasta, obwohl der hervorragendste Zauberer im ganzen Styrikum, mußte verlegen zugeben, daß er ratlos war.
Zu seiner Ehre sei gesagt, daß Zalasta den Weg vorschlug, dem Seiner Majestät Regierung schließlich folgte. Er riet, auf dem eosischen Kontinent Unterstützung zu suchen, im besonderen die eines Mannes namens Sperber.
Sämtliche diplomatischen Vertreter des Imperiums auf dem eosischen Kontinent wurden sogleich beauftragt, alle Arbeit ruhen zu lassen und ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf diesen Mann zu richten. Es sei unabdinglich, daß Seiner Majestät Regierung alles über diesen Sperber erfahre. Als die Berichte aus Eosien eintrafen, bekam der Reichsrat ein umfassendes Bild von Sperber, von seiner äußeren Erscheinung, seiner Persönlichkeit und seinem Lebenslauf.
Ritter Sperber, wie sich herausstellte, war Angehöriger eines der halbreligiösen Orden der elenischen Kirche. Der seine nennt sich »Orden der Pandionischen Ritter«. Sperber ist ein großer, fast hagerer Mann am Anfang seiner mittleren Jahre, mit einem von Narben gezeichneten Gesicht, scharfer Intelligenz und unbeherrschter, manchmal gar kränkender Offenheit. Die Ritter der Elenischen Kirche sind furchteinflößende Recken, und Ritter Sperber steht an ihrer Spitze. Einmal in der Geschichte des eosischen Kontinents – zu einer Zeit, als die vier Kriegerorden der Kirche gegründet wurden –, befanden die Elenier sich in einer so verzweifelten Lage, daß sie gar ihre althergebrachten Vorurteile ablegten und den Kriegerorden Unterricht in den geheimen Künsten des Styrikums gestatteten. Dieses Wissen half den Ordensrittern damals, vor gut fünf Jahrhunderten, sich im Ersten Zemochischen Krieg zu behaupten.
Ritter Sperber hatte ein Amt inne, dessengleichen in unserem Imperium unbekannt ist. Er war der erbliche »Streiter« des elenischen Königshauses. Die westlichen Elenier haben eine ritterliche Kultur, die viele Altertümlichkeiten aufweist. Die »Herausforderung« (im wesentlichen eine Aufforderung zum Zweikampf) ist die übliche Entgegnung von Edelleuten, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Es ist erstaunlich, daß nicht einmal Monarchen davor gefeit sind,
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