Blade 02 - Nachtklinge
haben.
Lass dir gefälligst was einfallen,
schalt er sich.
Sonst muss Elizavet dich wieder tagelang einsperren.
Als ihm der rettende Gedanke schließlich kam, war er so naheliegend, dass er sich wunderte, nicht früher darauf gekommen zu sein.
Er befand sich in Venedig, und in dieser Stadt konnte man
alles
kaufen.
Es gab nicht nur den Weinhandel an der Riva dei Vini, den Eisenhandel mit deutschen Lastschiffen, die an der Riva del Ferro anlegten, oder den Sklavenmarkt an der Riva degli Schiavoni. In Venedig trieb man auch dunklere Geschäfte. Da es ihn nach Blut verlangte, er sich aber geschworen hatte, nie mehr dafür zu töten – auch wenn er nicht sicher war, ob es ihm gelingen würde –, musste er es schlichtweg kaufen.
Mit einem mächtigen Sprung gelangte er von der
altana,
dem Flachdach seines Hauses, über den schmalen Kanal hinweg auf das Dach eines Lagerhauses. Ein streunender Kater erstarrte vor Schreck, Tauben erwachten mit aufgeregtem Gurren, und ein Wachmann blickte blinzelnd in die Dunkelheit. Aber Tycho war längst weitergeschnellt und eilte von Dach zu Dach zu den Armenvierteln am westlichen Rand der Stadt.
In diesen Straßenzügen kämpfte jeder darum, irgendwie zu überleben. Tycho hatte seine schäbigste Kleidung übergeworfen, trug eine gestohlene Nicolettikappe, und statt des Schwerts trug er nur ein scharfes Messer. Er hatte Kupfermünzen eingesteckt und etwas Silber, obwohl die Berührung des Metalls ihn schmerzte. Zwei Dukaten hielt er in seinem schmutzverkrusteten Schuh verborgen.
»Das ist mein Revier!«
Ein Bettlermädchen griff nach einer Krücke.
Für einen Krüppel bewegte sie sich verdächtig behände. Die ranzige Decke war offenbar ihr Bett. Ein struppiger Hund, angeleint mit einem zerschlissenen Strick, bleckte seine gelben Zähne, als sie drohend die Krücke schwang. Tycho warf ihr eine Münze zu.
»Was ist das?«
»Eine Münze.«
Das Mädchen musterte ihn misstrauisch. Dann ging sie in die Hocke, streckte blitzschnell die Hand aus und grapschte nach dem fettigen Geldstück. Als sie aufsah, warf er ihr nacheinander zwei weitere Münzen zu.
»Im Liegen, im Stehen oder von hinten?«
»Meine Wünsche sind ausgefallener.«
Sie sah finster auf die drei Münzen und schien abzuwägen, wie ausgefallen seine Wünsche sein mochten. Nach den nächsten beiden Münzen kam sie zu dem Schluss, dass sie äußerst ausgefallen sein mussten.
»Was wollt Ihr?«
»Du sollst mir das hier füllen.« Er reichte ihr ein zinnernes Tintenfässchen, das er in der verlassenen Druckerei hinter seinem Haus gefunden hatte. Es war ein Allerweltsgefäß ohne Monogramm, Zeichen oder Schmuck. Jedermann hätte der Besitzer sein können.
»Willst du zusehen, während ich …?« Sie glaubte zu wissen, was er wollte, und war sichtlich erleichtert.
»Ich will dein Blut.«
Tycho schlitzte ihr die Hand auf. Sie zitterte vor Entsetzen.
»Das ist zu tief«, sagte sie. »Viel zu tief.«
Aus ihrer Hand sprudelte Blut in das Gefäß und verströmte einen berauschenden Geruch. Er konnte sich nur mühsam bezähmen, während er sich vorstellte, wie es gleich durch seine Kehle rinnen würde. Tycho wandte sich ab, um seine Wolfszähne zu verbergen, und biss sich selbst in den Finger, um Blut zu saugen.
Eine frische Wunde verlief quer über ihr Gesicht.
»Woher hast du das?«, fragte er.
»Von einer Peitsche. Bin einem Fuhrmann in die Quere gekommen.«
Er hatte es sich beinahe gedacht. Die Wunde war tief und an den Rändern ausgefranst, wie es bei Peitschenschlägen häufig vorkam. Er beugte sich vor, legte die Fingerspitzen auf ihre Haut und zog die Wundränder auseinander. Sie schrie so gellend auf, dass die Schritte in der nächsten Straße verstummten. Bevor sie sich losreißen konnte, bestrich er ihre verletzte Gesichtshälfte und die Schnittwunde an ihrer Hand mit seinem eigenen Blut.
»Beide Wunden werden sauber verheilen.«
»Wirklich?«
»Geh jetzt«, befahl Tycho mit heiserer Stimme.
Das Mädchen rappelte sich auf und lief davon, gefolgt von ihrem räudigen Köter.
Tycho ließ sich auf ihre schmutzige Decke fallen und trank das schäumende Blut in gierigen Zügen. Nach und nach zeichnete sich alles ringsum gestochen scharf vor seinen Augen ab. Ihr Blut schmeckte nach Angst und Traurigkeit, Einsamkeit und geheimen Hoffnungen. Es trug ihm keine Erinnerungen zu. Vielleicht enthielt nur das Blut von Toten Erinnerungen. Stattdessen dachte er beim Geschmack ihres Blutes an seine eigene Kindheit.
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