Blade 02 - Nachtklinge
ihr Glück woanders versuchen, und ich glaube, Gräfin Desdaio war …«
Tycho konnte sich ungefähr ausmalen, wie erbaut sie von dieser Begrüßungsansprache gewesen war.
Er war in einer Welt aufgewachsen, in der Sklavenbesitzer ihre Sklaven peinigten. In Gräfin Desdaios Welt gab es dergleichen nicht. Er befestigte den Dolch an seiner Seite, schob sich einen Rubinring, den er kürzlich beim Glücksspiel gewonnen hatte, an den Finger und öffnete die Tür. Pietro folgte ihm in die Eingangshalle. Vor der Tür wartete Desdaio.
»Ich wollte mich vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Die Leute sagen …«
Sie hatte sich bestimmt große Sorgen gemacht, sonst wäre sie im Traum nicht auf die Idee gekommen, abends die halbe Stadt zu durchqueren, um sich nach dem Befinden eines ehemaligen Sklaven zu erkundigen. Aus welchem Grund hätte sie sonst allein vor seiner Tür stehen sollen?
»Gräfin Desdaio …«
Sie schob eigensinnig das Kinn vor.
Tycho seufzte. »Kommt lieber herein.«
18
I n der darauffolgenden Woche besuchte Gräfin Desdaio ihn erneut, wiederum unangekündigt und in Begleitung Pietros. Sie hatte ein Körbchen mit Feigen dabei und behauptete, Tycho sehe blass aus. Außerdem gab sie ihm ein Handbuch über die Kriegskunst. Tycho las es in einem Zug durch, entschied, dass es nichts taugte, und legte es in die Eingangshalle, damit sie es bei ihrem nächsten Besuch wieder mitnahm. Er rechnete bald mit ihrem Besuch.
Die reichste Erbin der Stadt und Tychos jüdische Dienerin waren, nach ihrer ersten, etwas unglücklichen Begegnung, bald ein Herz und eine Seele. Die warmherzige Desdaio besaß ein besonderes Talent, selbst solche Peinlichkeiten in eine heitere Erinnerung zu verwandeln.
Bei ihrem nächsten Besuch brachte sie ihm Kleidung und ein paar neue Stiefel aus Ziegenleder, die er angeblich in Atilos Haus vergessen hatte. Außerdem hatte sie kaltes Huhn für die geflügelte Echse dabei, die das Haus niemals verließ.
»Das Tier beobachtet dich.«
»Wahrscheinlich ist sie von einem mongolischen Boot ausgerissen. Elizavet füttert sie. Ich werde sie behalten.«
Desdaio schüttelte den Kopf. »Sieh ihr in die Augen!«
Tycho tat es und stellte fest, dass er dem Blick des Tieres nicht standhalten konnte. Die Echse wich an diesem Abend nicht von seiner Seite, und als Tycho am nächsten Abend in der Dämmerung erwachte, saß das Geschöpf nur einen Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt.
Einige Tage später fiel ihm auf, dass Desdaios Besuche immer mit den Sitzungen des Zehnerrats zusammenfielen. Männer mit altersfleckigen Händen bestimmten über das Schicksal Venedigs, Männer wie Atilo, die bedenkenlos junge Männer – und junge Frauen – in den Tod schickten. Tycho fragte sich, ob Desdaio wusste, wie gefährlich ihre Besuche waren.
Als sie zum vierten Mal vor seiner Tür stand, schlug er vor, auf die
altana
zu gehen. Der Abend war drückend heiß, und der Wind würde ihnen etwas Kühlung verschaffen. Sie war überrascht. »Der Mond macht dir nicht mehr zu schaffen?«, fragte sie.
»Heute ist Neumond, Gräfin.«
»Und den Vollmond erträgst du mittlerweile auch besser?«
Sie erinnerte sich an eine Nacht, als der Anblick eines winzigen Teils des vollen Mondes ihn halb wahnsinnig gemacht hatte. Er zog es vor, zu lügen. »Es hat sich einiges geändert, Gräfin.«
»Was ist der Grund dafür?«
»Vielleicht einfach, dass ich älter geworden bin.«
Diese Antwort gefiel ihr. Sie nickte mit der vermeintlich überlegenen Lebenserfahrung, die eine Vierundzwanzigjährige einem noch nicht ganz Zwanzigjährigen voraushatte. Doch nicht das Alter hatte Tychos Hunger gestillt, sondern das Blut der jungen Bettlerin.
»Woran denkst du?«
»Venedig ist eine seltsame Stadt.«
Sie lächelte traurig. »Da hast du recht.«
Desdaio war nicht nur älter als er, sie konnte lesen und sprach drei Sprachen. Beim Anblick ihrer Schönheit stockte Männern der Atem. Damit nicht genug, war sie die reichste Erbin der Stadt und galt einst als standesgemäße Ehefrau für Marco IV. Deshalb hatte es einiges Aufsehen erregt, als sie stattdessen in das Haus des Mauren zog, der dem verstorbenen Dogen als Admiral gedient hatte.
Sie war gekommen, um über Atilo zu reden.
Tycho wusste es vom ersten Augenblick an, auch wenn sie ihn zunächst mit Fragen bestürmte. Wohin er zum Glücksspiel gehe, ob er noch Geliebte habe. Dass sein vollständiger Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben die ganze Stadt beschäftige.
»Ich habe
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