Blade 02 - Nachtklinge
Hoffentlich gelang es ihr eines Tages, ihrem elenden Los zu entfliehen.
Am nächsten Tag ließ er verbreiten, dass er niemanden mehr in seinem Haus empfangen werde. Wenn seine Freunde darauf brannten, Geld beim Glückspiel zu verlieren, mussten sie sich einen anderen Gastgeber suchen.
17
T ycho schlief. Er träumte von sanftem Nachmittagslicht, das immer dunkler wurde, als sich Wolkenbänke über den Horizont der Lagune schoben. Ein frühsommerlicher Sturm brach über die Stadt herein. Die Händler auf dem Markt am Rialto schlossen hastig ihre Stände und die Händler, die an der Riva degli Schiavoni ihre Waren feilboten, nahmen mit jedem Unterschlupf vorlieb, um Hab und Gut ins Trockene zu bringen.
Regen peitschte über die Piazza San Marco, rauschte in Sturzbächen aus den steinernen Fratzen der Wasserspeier an San Pietro di Castello. Er sprühte vom Bleidach des Dogenpalastes und ergoss sich silbern glänzend über die Kupferkuppel der Basilika. Der Regen fiel heftiger und länger als gewöhnlich.
In Tychos Traum ging die Sonne unter. Es regnete mit solcher Wucht, dass die Lagune bedrohlich anschwoll. Tycho befand sich auf einer kleinen Insel im Nordosten der Stadt. Blutrote Rosen blühten üppig auf den Grabhügeln. Unter jedem Hügel lagen Hunderte von Toten, das wusste er instinktiv.
Plötzlich kroch ein Mädchen aus der feuchten Erde hervor. Sie hielt inne und kauerte auf dem Boden. Einen Moment später erhob sie sich und schirmte die Augen mit der Hand vor den letzten blutroten Strahlen der untergehenden Sonne ab.
Im ersten Moment dachte Tycho, es handele sich um das Bettlermädchen, dessen Blut er getrunken hatte.
Im Haar der Fremden klebte Schlamm.
Ihr Mund war voller Erde, die sie ausspie, dann wischte sie sich das Gesicht ab. Ein durchnässtes Totenhemd klebte an ihrem Körper. Sie erhob sich unsicher und zerrte es sich vom Leib. Sie hatte winzige Brüste und knochige Hüften. Mit einem Mal erkannte Tycho das Mädchen.
Als er Rosalie begegnet war, war sie dreizehn Jahre alt gewesen, und vierzehn, als Atilo Tycho befohlen hatte, sie zu schlagen. Tycho hatte sich geweigert. Das hatte Rosalie das Leben gekostet. Er fühlte sich schuldig, offenbar so schuldig, dass ihr Bild ihn bis in seine Träume verfolgte.
Sie starrte ihn an.
Dann öffnete sie den Mund und fauchte. Als Tycho ihre entblößten Fangzähne sah, überlief ihn ein Schauer. In ihren glutroten Augen loderte ein seltsames Feuer.
Sie ließ sich auf Knie und Hände fallen. Auf allen vieren jagte sie davon wie ein Tier, zuerst unsicher, dann Tritt fassend. Sie setzte über die verrotteten Boote am Ufer der Insel hinweg, blieb an irgendetwas hängen und stürzte. Ihr Gelächter war das einer Wahnsinnigen.
Träume waren selten in der tiefen Schwärze, die er Schlaf nannte. Dieser Traum hatte Tycho in ein flüchtiges Zwischenreich befördert, halb wachend, halb schlafend.
»Herr.«
Eine Stimme rief vor seiner Tür.
Ein schüchternes Klopfen, das kräftiger wurde. »Herr, seid Ihr schicklich gekleidet?«, fragte die Stimme eines Jungen. Tycho fragte sich verwundert, was Atilos Page hier verloren hatte. Warum stellte ihm Pietro eine solche Frage? Gerade hatte er von der Schwester des Jungen geträumt, da stand der Bruder selbst vor seiner Tür …
»Pietro?«
»Ja, Herr.«
»Sag Tycho«, korrigierte Tycho, erhob sich und griff nach seinem Gewand. Im Gegensatz zu den meisten Venezianern schlief er nackt. Falls man es als Schlaf bezeichnen konnte, wenn diese Welt verschwand und sich in eine andere verwandelte. »Welcher Tag ist heute?«
»Samstag, Herr, es ist beinahe Abend.«
Tycho seufzte.
»Gräfin Desdaio lässt fragen, ob Ihr wach und, äh, schicklich gekleidet seid.« Diesmal war dem Jungen deutlich anzuhören, dass er keine Ahnung hatte, was das heißen sollte.
»Bitte sie, unten auf mich zu warten.«
»Sie ist draußen vor Eurem Haus.«
»Warum das denn, in Gottes Namen?«
»Das jüdische Mädchen, das Eure Tür öffnete …«
Tycho fuhr eilig in seine Beinlinge, warf sich ein Leinenhemd über und schlüpfte in ein schwarzsamtenes Wams. Es war kurz geschnitten und reichte nur bis zur Taille. Wie die meisten jungen Venezianer trug Tycho eine Schamkapsel im Stil der aktuellen Mode.
»Was ist denn mit Elizavet?«
»Sie hat versucht, Gräfin Desdaio wegzuschicken. Sie hat behauptet, Ihr seid zum Mönch geworden und nehmt keine hübschen willfährigen Jungfrauen mehr mit in Euer Bett. Sie hat gesagt, die Gräfin solle
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