Blaine McCracken 6: Der Tag Delphi
in ihren Worten. Kristen hatte das Stadthaus verlassen und war wie benommen nach Hause gegangen.
Vielleicht hätte sie am nächsten Tag kündigen sollen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich in ihren siebenundzwanzig Jahren unbehaglicher und befangener gefühlt hatte. Aber das hätte bedeutet, die Freundschaft mit einer Person aufzugeben, die für Kristen in der schwierigsten Zeit ihres Lebens, im Sommer vor den Wahlen im Jahr 1992, immer für sie dagewesen war. Samantha Jordan hatte ihren Wahlkampf zwei Tage lang unterbrochen, um bei der Beerdigung von Kristens Eltern anwesend sein zu können. Sie hatte bei den Vorbereitungen geholfen. Kristen hätte nicht gewußt, was sie ohne sie hätte anfangen sollen, und war froh, den Gefallen erwidern zu können, als lediglich zwei Monate später eine unangenehme Scheidung damit endete, daß die Jordan das Sorgerecht für ihre beiden Kinder verlor.
Kristen hatte sich, nachdem das endgültige Urteil ergangen war, die ganze Nacht hindurch mit der Senatorin unterhalten und Samantha Jordans Stadthaus erst wieder an dem Abend im November gesehen, an dem sie ihre Beförderung gefeiert hatten. Sie wußte, daß die Jordan einsam war und seit der Scheidung häufig unter Depressionen litt. Sie nahm die versuchte Verführung als Ergebnis ihrer stürmischen Gefühlslage hin.
Aber in den darauffolgenden achtzehn Monaten war es zu weiteren Versuchen gekommen, jeweils immer dann, wenn es der Jordan besonders schlecht ging. Sie hatten immer auf dieselbe unschuldige Art und Weise geendet: Kristen hatte der Senatorin in ihr Schlafzimmer hinauf geholfen und sich dann im Wohnzimmer schlafen gelegt, falls die Senatorin aufwachen und noch immer so furchtbar depressiv sein sollte.
Washington liebte Gerüchte geradezu, und die um die angebliche Liebschaft der beiden Frauen war eine Zeitlang das heißeste gewesen. Es köchelte weiterhin auf kleiner Flamme, weil Kristen sich nicht die Mühe machte, es zurückzuweisen, aus Furcht, sie könne damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf die Situation lenken, Samantha Jordans gefühlsmäßige Instabilität ans Licht bringen und damit die brillante Karriere zerstören, die die Senatorin einzig und allein zusammenhielt. Darüber hinaus gab es keinen Mann in ihrem Leben, den Kristen hätte anführen können, um den Gerüchten den Nährboden zu nehmen. Es hatte schon seit geraumer Weile keinen mehr gegeben. Der Tod ihrer Eltern hatte ihr jedes Verlangen nach einer Beziehung genommen und ihren Drang nach körperlichem Vergnügen stark eingedämmt. Wann immer sie sich besser fühlte, setzten unwillkürlich Schuldgefühle ein. Sie konzentrierte sich voll auf ihre Karriere, denn die Arbeit war das einzige, was sie von allem anderen ablenkte.
Kristen sehnte sich schließlich nach den langen Nächten allein im Wohnzimmer des Stadthauses der Senatorin, denn sie war froh, nicht die einzige zu sein, deren Gefühle in eine so tiefe Grube gestürzt waren. Sie konnte sich nur vorstellen, sich je wieder mit einem Mann einzulassen, wenn sie einen fand, der ihr die Kraft gab, die sie Samantha Jordan während ihrer schlimmsten depressiven Phasen gab. Es mußte anfangs lediglich ein Freund sein, der nicht mehr verlangte, als sie geben konnte, und der sie nicht im Stich lassen würde.
Nach Kristens verzweifeltem Anruf aus Colorado hatte Samantha Jordan sie nicht im Stich gelassen. Als Kristen drauf und dran war, nach dem grausamen Tod ihres Bruders in einen Abgrund der Hoffnungslosigkeit zu stürzen, hatte sie hinabgegriffen und sie wieder hochgezogen.
»Ich habe morgen früh im Pentagon eine Verabredung mit dem Ordonnanzoffizier für alle in den Staaten befindlichen Militärbasen«, sagte die Senatorin, als ihr Fahrer sich in den Verkehr einfädelte.
»An einem Sonntag?«
»Das Pentagon weiß, wem es seine Büros öffnen muß, Baby.«
»Hast du etwas über Paul Gathers herausgefunden?« fragte Kristen sie.
»Nach allem, was ich zusammensetzen konnte, hat er einen strikten Routineauftrag gehabt.«
»Aber hast du mit ihm gesprochen?«
»Es ist noch nicht an der Zeit, auf dieses Thema zu sprechen zu kommen, Kris. Aber wenn es an der Zeit ist, gibt es keine Bessere, die sich nachdrücklich ins Zeug legen könnte.«
Am Sonntag morgen mußte Kristen sich im Pentagon bemühen, mit der Senatorin Schritt zu halten, als sie durch die Korridore stürmte. Die Frau war der reinste Dynamo. Nichts und niemand kam ihr in den Weg. Sie hatte sich durch einen Unterausschuß
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