Blamage
bereits Südkorea und Taiwan betroffen, und Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich bald nach Europa ausbreiten wird. Ãber vereinzelte deutsche Fälle von »Einsiedlern im Kinderzimmer« berichtete der Spiegel bereits vor einigen Jahren. In Italien wächst laut staatlichen Statistiken der Anteil der »inaktiven« Menschen der Altersgruppe 15 bis 29 ebenfalls. Im Jahr 2010 waren über 22 Prozent der jungen Leute bei den Eltern wohnhaft, gingen weder einer Arbeit noch einer Berufsausbildung oder einem Studium nach. Der Lebensstil dieser Nesthocker, die jede Eigeninitiative aus Angst vor Zurückweisung oder Ãberforderung scheuen, wird als passiv und bildungsfern beschrieben, überdurchschnittlich viel Zeit verbringen die Gäste im »Hotel Mama« mit Schlafen, Fernsehen und Essen. Und für die Schweiz stellte das Gottlieb-Duttweiler-Institut in einer Studie kürzlich fest, dass es auch hier immer mehr Anzeichen für einen Nesthocker-Lebensstil in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen gibt. Die Studie spricht vom »Luxus und Zwang einer verlängerten Jugend«, vom »Leben im Moratorium«. Während die schnelllebige Arbeitswelt Unsicherheit mit sich bringe und Qualifikationen inzwischen rasch veralten, biete der relative Wohlstand und der Immobilienbesitz der Elterngeneration Sicherheit und Kontinuität. 90
Angriff ist die beste Verteidigung â Wie sich Schüchternheit hinter Aggressivität und Coolness verbirgt
Schamangst wird oftmals hinter einer Vielzahl von Verhaltensweisen, Symptomen, Charakterzügen und klinischen Zuständen verborgen, viele Depressionen und Angstzustände können auf das Kernproblem »Scham« zurückgeführt werden. In vielen Fällen sind zudem paranoide Symptome, Lügensucht, Betrug und Drogenmissbrauch als sekundäre Folgen der Schamangst zu interpretieren. Es können aber auch ganz andere Reaktionen hervorgerufen werden: Aggression und offensive Beschämung anderer. Psychisch Kranke nutzen bisweilen motorische Aktivitäten wie wildes Grimassieren oder Tics, um aufkommende Verlegenheits- und Peinlichkeitsgefühle zu dämpfen. In milderer Ausprägung ist dieses Verhalten in Form nonverbaler Tics und Ãbersprungshandlungen verbreitet, etwa Kratzen, Kinn kraulen, auf die Lippen beiÃen oder die Zunge beim Sprechen herausstrecken. Hinzu kommen halbanimalische ÃuÃerungen wie wiederholtes Grunzen, Stöhnen, unzählige »Ãhs« oder unmotiviertes Lachen. Sogar Exhibitionismus kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Der renommierte Psychoanalytiker Léon Wurmser hat Exhibitionisten untersucht, die vor ihren Taten unter starken Schamgefühlen litten. Schwere Schamkonflikte können sich laut Wurmser auch in einem verächtlichen und gehässigen Wesenszug äuÃern. »Die Person versucht zu beweisen, dass der andere an seiner Statt hilflos und verachtenswert ist: âºIch verspotte ihn, ehe er mich verspottet â denn ich verhöhne mich selbst am meisten.â¹Â« 91 Man kommt der eigenen Beschämung auf diese Weise zuvor. Besonders deutlich wird dies in Form narzisstischer Persönlichkeitsstörungen und narzisstischer Verhaltensweisen, die die eigene Idealisierung und Grandiosität zum Gegenstand haben â eine mächtige und gar nicht so seltene Gegenbewegung zum Schamgefühl. Auch der Drang, sich ständig über die Peinlichkeiten anderer zu erregen, kann in diesem Sinn als SelbstschutzmaÃnahme interpretiert werden.
In einigen jugendlichen Subkulturen war und ist es gang und gäbe, sich zur Abwehr eigener Schamgefühle ein schockierendes ÃuÃeres zuzulegen: Die eigene Hässlichkeit, Anzüglichkeit und Obszönität beschämen nun die anderen, und zwingen die Betrachter zum peinlich berührten Wegschauen â ein Pflock, der durch das Ohr getrieben wurde, eine Tätowierung mitten im Gesicht, ein kahl geschorener Schädel. Provozierende Schamlosigkeit und auftrumpfende Trotzigkeit können somit auch Reaktionen auf eine übergroÃe Schamanfälligkeit sein. Die am Anfang des Buches beschriebene Zweiteilung der Gesellschaft in die Gruppe der lautstarken Angeber und Narzissten, denen nichts mehr peinlich zu sein scheint, und in die Gruppe der leisen Schüchternen, die sich nicht nur für sich selbst, sondern stellvertretend für alle anderen schämen â diese beiden gegensätzlichen
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