Blankes Entsetzen
Internet. Such jemanden, der versteht, was wir wollen.« Er hielt inne. »Wenn du willst, dann sag, dass wir dafür bezahlen.«
»Bezahlen?«, fragte sie erschrocken. »Für ein Baby? Das ist doch furchtbar.«
»Nicht wenn’s funktioniert.«
»Wir haben nicht genug Geld.« Joanne konnte kaum glauben, dass sie das gesagt hatte.
»Finde heraus, wie viel es kosten würde.« Tony öffnete die Tür. »Wenn es nicht zu viel ist, zahle ich. Ich bin nicht geizig, 39
Joanne.«
»Das weiß ich, aber …«
»Finde es heraus, Joanne. Oder wir lassen das Ganze.«
Sie wollte schon aufgeben, als sie auf die Website eines Adoptions- »Fachmanns« stieß, der behauptete, legitime Verbindungen zu Agenturen auf drei Kontinenten zu haben, und der sich auf Paare spezialisiert hatte, die sich vom »System«
verlassen fühlten – wegen ihres Alters, ihres sozialen Status oder anderer irrelevanter und oft kleinlicher Umstände.
Das wäre zu einfach, dachte Joanne und versuchte, ihre Aufregung unter Kontrolle zu halten, als sie die E-Mail-Adresse auf der Website anklickte – sie tat schließlich nicht mehr, sagte sie sich, als ihre Zehen ins Wasser zu stecken.
Und das war warm und sehr angenehm, wie sich herausstellte, und trat ihr in Gestalt einer skandinavischen Ärztin namens Marie Jenssen gegenüber. Eine Dame mittleren Alters, die Joanne erklärte, sie sei im Auftrag der internationalen Operation für die britischen »Zugänge« zuständig. Sie schien nichts anderes zu wollen als Tony und Joanne zu helfen, sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen und einem notleidenden Kind ein neues Leben zu ermöglichen.
Bei Dr. Jenssen gab es keine langen Gespräche, und es war nur ein Minimum an Formularen auszufüllen; lediglich ein Treffen im Café eines Hotels am Russell Square, einen Vertrag und Geld, das sie auftreiben mussten – so viele Bündel Geld, dass Joanne fürchtete, Tony würde die Sache doch noch abblasen.
Aber dann wurde ihr Baby gefunden.
Irina Camelia Karolyi. Fünf Wochen alt, elternlos und in einem Waisenhaus in Bukarest untergebracht. Keine Verwandten. Keine Zukunft. Keine Hoffnung.
»Sie ist sehr hübsch«, sagte Joanne leise und starrte auf das 40
Foto, das Dr. Jenssen geschickt hatte: ein winziges Mädchen mit riesigen dunklen Augen, das tatsächlich aussah, als lächele es aus seiner Wiege heraus.
»Sie ist süß«, sagte Tony. »Ich könnte sie wirklich lieben, Joanne.«
Von diesem Augenblick an war er ebenso wenig zu bremsen wie Joanne. Während sie bei Sandra, den Nachbarn, ein paar Freunden und der Baugenossenschaft den Weg ebnete und ihre Umwelt auf die Ankunft ihres Adoptivkindes vorbereitete –
wobei sie die Wahrheit jedoch vor allen verborgen hielt –, arbeitete Tony wie ein Besessener in seiner Werkstatt, um das nötige Geld zu beschaffen, auch wenn ihm immer schleierhafter wurde, wofür und wen er eigentlich bezahlte.
»Du hättest sie um eine Kostenaufstellung bitten sollen«, sagte Joanne, nachdem Tony wieder einmal fünfhundert Pfund an Marie Jenssen gezahlt hatte.
»Du weißt, dass sie das nicht getan hätte«, sagte Tony. »Dir ist doch inzwischen klar, wie der Hase läuft.«
Allerdings – und das ängstigte sie mittlerweile noch mehr als die erschreckenden Ausgaben. Der Hase, wie Tony es ausgedrückt hatte, war die illegale Adoption, und das Geld, fürchtete Joanne, floss in die illegale Beschaffung von Visa und die Bestechung von Beamten in Gott weiß wie vielen Ländern. Sie hatte von illegalem Babyhandel gelesen, und die Vorstellung, dass jemand so gewissenlos sein konnte, ein Kind zu verkaufen
– geschweige denn, eins zu kaufen –, hatte sie abgestoßen.
»Findest du, wir sind gewissenlos?«, fragte sie Tony eines Abends. »Weil wir das hier tun?«
»Nein, verdammt. Das finde ich nicht.« Die bloße Erwähnung machte ihn wütend. »Wir retten dieses Baby, Jo. Wir helfen Irina.«
Sollten dennoch Zweifel geblieben sein, so waren sie in der Sekunde, als sie Irina sahen, spurlos verschwunden: Am letzten 41
Freitag im darauf folgenden April kam Marie Jenssen an der King’s Cross Station auf die beiden zu, in ihren Armen das Baby. Joanne durchlebte in diesem Augenblick einen letzten Anflug von Panik, als sie sich ausmalte, wie eine Meute Polizisten auf sie losstürmte, sobald Marie ihnen das Baby überreichte.
Es kam keine Polizei.
Nur ein kleines Mädchen, damals gerade drei Monate alt. Mit riesigen dunklen Augen, die eindringlich zu ihren neuen Eltern
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