Blankes Entsetzen
ausgereicht hatte, um den Tod herbeizuführen. Das deutete darauf hin, dass die nachfolgenden Schläge dem Opfer möglicherweise in Wut oder Raserei zugefügt worden waren.
Die Mordwaffe, glaubte die Pathologin, war vermutlich ein Stein aus einem Garten oder Park in der Gegend von London Clay, vielleicht nicht allzu weit von der Stelle entfernt, an der man das Opfer gefunden hatte. Die Suche nach Fingerabdrücken 45
in dem Schuppen hatte nichts ergeben, außer einer Hand voll zerbrochener Bierflaschen mit ein paar verschmierten Abdrücken, einem Haufen zertretener Cola- und Limodosen, ein paar alten Spritzen und keinem einzigen brauchbaren Schuh-oder Stiefelabdruck.
Das war alles. So verdächtig Bolsover auch war – zu dem Zeitpunkt, als Helen und ihr Team mit ihm sprechen konnten, waren die Chancen, an seinem Körper oder an der Kleidung einen möglicherweise belastenden Hinweis zu finden, längst fast null, so viel Zeit war zwischen Lynnes Tod und dem Fund ihrer Leiche vergangen. Außerdem waren die Durchsuchungen von Bolsovers Haus, seines Hondas sowie seines Schreibtisches und Schließfachs auf der Arbeit ergebnislos geblieben.
»Die Befragung der Nachbarschaft hat bisher nichts ergeben«, sagte Sergeant Geoff Gregory jetzt.
»Wir haben auch noch niemanden, der widerlegt, dass Bolsover zu Hause war«, sagte Constable Ally King, eine hübsche Schwarze, die das Team von der örtlichen
Kriminalpolizei ausgeliehen hatte.
Lynnes Mann behauptete, zum Zeitpunkt des Mordes – einem Dienstag, als die Kinder in der Schule waren – zu Hause vor dem Fernseher ein Nickerchen gemacht zu haben, da er wegen eines Rückenleidens nicht arbeiten gegangen war. Und Valerie Golding gestand zwar, dass sie nichts lieber getan hätte, als die Geschichte ihres Nachbarn unglaubwürdig klingen zu lassen, doch sie hatte sich den größten Teil des Tages draußen in Bent Cross aufgehalten.
Helen seufzte und starrte wohl zum hundertsten Mal auf die Schreibtafel, auf der partout kein anderer Verdächtiger erscheinen wollte. Keine Liebhaber – weder von John noch von Lynne – waren aufgetaucht. Niemand, der irgendeinen Groll gegen Lynne hegte. Keine Kabbeleien mit anderen Eltern an der Schule der Kinder, kein Hinweis darauf, dass sie sich verfolgt 46
gefühlt hatte, keine Einbrüche in ihr Haus. Es gab nicht einmal einen Zeugen, der am fraglichen Tag einen Streit zwischen Mann und Frau gehört hätte.
Andererseits: Selbst wenn die Nachbarn sie schreien gehört hätten, wäre auch das noch längst kein Beweis, dass John Bolsover seine Frau getötet hatte.
Lynnes Gesicht lächelte Helen von einem Foto an.
Daneben ein anderes Gesicht, eine schreckliche, blutige Maske des Todes.
Lynne Frances Bolsover. Neunundzwanzig Jahre alt. Mutter zweier kleiner Kinder.
Ausgelöscht von einem oder mehreren Unbekannten.
»Wir wissen aber, dass er es war, oder?«, fragte Constable King.
»Wir wissen einen Dreck, Ally«, sagte Helen.
Sergeant Gregory, ein übergewichtiger Mann mittleren Alters, stand auf. »Dann sollten wir uns wieder auf die Socken machen und etwas auftreiben, mit dem wir den Bastard festnageln können.«
»Je eher, desto besser«, sagte Helen.
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8.
m ersten Monat, nachdem ihre Eltern sie nach Hause geholt I hatten, lächelte Irina sehr oft und weinte fast nie. Dann aber
– als hätte sie ihre Macht, etwas vom Leben zu fordern, vorher nicht begriffen – begann das kleine Mädchen nicht bloß zu weinen, sondern mit durchdringender Stimme zu schreien, wann immer sie Milch oder eine saubere Windel, auf den Arm genommen oder wieder hingelegt werden wollte.
»Kannst du nicht dafür sorgen, dass sie das sein lässt?«, fragte Tony seine Frau.
»Natürlich nicht«, erwiderte Joanne abwesend. »Wenn ich es könnte, würde sie ja nicht mehr weinen, oder?« Sie musterte Irinas leuchtend rote Wangen. »Ich mache mir allmählich Sorgen um sie, Tony. Wir müssen mit ihr zum Arzt.«
»Ich dachte, damit wollten wir noch warten.«
Sie waren übereingekommen, dass sie – mit Ausnahme der normalen Kontrolluntersuchungen und Impfungen bei ihrem Hausarzt – lieber zu einem privaten Kinderarzt gehen wollten, als zu riskieren, den staatlichen Gesundheitsdienst in Anspruch zu nehmen. Eine oder zwei Rechnungen mehr, hatte Tony damals unbekümmert erklärt, würden angesichts der Summen, die er bereits beschafft hatte, auch keinen großen Unterschied mehr machen.
Doch jetzt, wo es so weit war, schien er nicht mehr ganz so überzeugt zu
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