Blankes Entsetzen
aufschauten.
»Hallo, Prinzessin«, sagte Tony leise.
Joanne, unfähig zu sprechen, hielt den Atem an.
Und Irina lächelte.
»Glücklich, Joanne?«, fragte Marie sanft.
»Glücklich ist nicht das richtige Wort.« Joannes Stimme klang erstickt.
»Tony?« Marie sah ihn an.
»Genauso.« Tony schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben.«
»Es ist wahr«, sagte Marie.
Sie verabschiedete sich Augenblicke später, was Joanne erneut in Panik versetzte.
»Ich muss mehr wissen«, sagte sie. »Ich muss mehr über sie erfahren!«
»Sie wissen alles, was Sie je wissen werden«, antwortete Marie. »Das war Ihnen doch klar, Joanne. So laufen diese Adoptionen. Es ist besser für Sie alle.«
»Marie hat Recht, Liebling«, unterstützte Tony die Ärztin.
»Irina gehört jetzt uns. Das ist alles, was wir wissen müssen.«
»Und wenn sie krank wird?« Das Baby wand sich in ihren Armen. »Wir müssen doch in der Lage sein, ihre Familienge-42
schichte zu recherchieren.« Sie kannte die Antwort bereits, denn sie hatte das Thema schon früher angeschnitten.
»Irina ist ein gesundes kleines Mädchen, Joanne«, versicherte Marie ihr. »Sie ist jetzt Ihr Kind, wie Tony schon sagte.«
»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Jo.« Tony streichelte dem Baby über die Wange. »Genieß es einfach.«
Joanne senkte den Kopf, schloss die Augen und sog den Geruch ihrer kleinen Tochter ein.
Als sie den Kopf wieder hob, war Marie Jenssen fort.
43
7.
ine knappe Stunde nach dem Fund der Leiche im Schreber-E garten warf Helen Shipley – eine dreiunddreißigährige, zurzeit leicht verkaterte Kriminalinspektorin des AMIT-Teams –
gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten, Chief Trevor Kirby, einen ersten, Übelkeit erregenden Blick in das weiße Tatort-Zelt. Kurz darauf stieß auch Stephanie Patel zu ihnen, die Dienst habende Pathologin.
Kaum drei Stunden später half ihnen John Bolsover, stellvertretender Geschäftsführer eines Supermarkts, der seine Frau vor mehr als einer Woche vermisst gemeldet hatte, bei der Identifizierung. Zwar wirkte er verstört und aufrichtig besorgt um seine Kinder, doch als sowohl Lynnes Schwester als auch ihre Nachbarin ihn als Haustyrann erster Güte identifizierten, avancierte Bolsover rasch zum Hauptverdächtigen. Ihre Schwester mochte zwar unter Depressionen gelitten und unter der Fuchtel ihres Mannes gestanden haben, sagte Pam Wakefield, doch hin und wieder habe sie die Kraft aufgebracht, sich gegen ihn zu wehren – bis zu dem Punkt, an dem er sie anbrüllte und häufig auch schlug.
»Was genau wollen Sie mir damit sagen, Pam?«, fragte Helen im Wohnzimmer der völlig verstörten Frau.
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Ich muss es in Ihren eigenen Worten von Ihnen hören«, meinte Helen.
»Was ich damit sagen will … Ich glaube, diesmal ist er zu weit gegangen.« Pam Wakefield starrte die Polizistin mit den grauen Augen und dem Stoppelhaarschnitt mit tränennasser Offenheit an. »Ich will damit sagen, dass es wahrscheinlich John Bolsover war«, sie sprach seinen Namen aus, als wären die 44
Worte Gift in ihrem Mund, »der meiner Schwester den Kopf eingeschlagen, sie dort hingeschafft und Säcke auf sie geworfen hat.«
Wahrscheinlich. Da lag der Haken.
»Du solltest ihn möglichst schnell festnageln«, sagte Chief Kirby, ein stämmiger, grauhaariger Junggeselle aus Wolverhampton später zu Helen.
Leichter gesagt als getan, dachte sie, denn nach drei langen Verhören im provisorischen AMIT-Quartier – einem trostlosen Backsteinbau knapp zwei Kilometer vor Claris Green, der ebenso provisorisch war wie die AMIT-Einheit selbst – zeigte Bolsover nicht das geringste Anzeichen, dass er schlappmachen, geschweige denn ein Geständnis ablegen würde. Sein Anwalt beharrte nachdrücklich darauf, dass man seinen Mandanten entweder offiziell beschuldigen oder nach Hause gehen und mit seiner Familie trauern lassen solle.
»Wir sind immer noch keinen Schritt weiter«, sagte Helen Shipley zu ihrem Team, das sie fünf Tage nach Beginn der Ermittlungen im lokalen Einsatzzentrum der Polizei zusammengerufen hatte. »Mir liegt ein Schriftsatz vor, der besagt, dass ich entweder scheißen oder vom Klo verschwinden muss, und ich habe keinen Fitzel eines echten Beweises. Keinen Zeugen, keine belastenden gerichtsmedizinischen Analysen, keine Mordwaffe, kein verdammtes gar nichts.«
Der tödliche Angriff war mit drei brutalen Schlägen erfolgt, doch Dr. Patel hatte Helen erklärt, dass bereits der erste Schlag
Weitere Kostenlose Bücher