Blanks Zufall: Roman
heute nicht, ob er damals Schmerzen empfand. Wahrscheinlich nicht, die drei Freunde tranken an dem Abend mehr als sonst (was wohl an der Stimmung mit den Mädchen lag). Aber er erinnert sich auch nicht an die Schmerzen an den Rippen (zwei waren geprellt) und er erinnert sich nicht, dass sein Gesicht schmerzte, als er am nächsten Morgen erwachte. Er erinnert sich nur an ein Gefühl, das er vor der Gewalt nur leise in sich vernommen hatte und das nun sein Wesen einnahm, und das eigentlich gar kein Gefühl war: Taubheit.
Taub gegenüber seinem eigenen Körper, der so fremd wirkte am nächsten Morgen, als er ihn im Spiegel nach dem Duschen betrachtete, lang und schlaksig, nahezu unbehaarte Brust, ein schlaffes Glied, dünne Beine, blass und blessiert. Taub gegenüber seiner Mutter, als diese mit erschrockener Miene seine Blessuren im Gesicht betrachtete. Lila verfärbte Quetschungen unter den Augen, aufgeplatzte Lippen, dunkel gefärbte Wangen, blutige Risse auf der Stirn.
„Sei froh, dass du keine Zähne verloren hast“, sagte sie, weil sie wahrscheinlich nicht wusste, was sie sagen sollte.
„Und wenn schon“, antwortete er, „dann trage ich eben meine dritten.“
„Sag sowas nicht, Marcus.“
„Es wird verheilen, Mama.“
„Aber ich muss das jeden Tag sehen.“
„Ich doch auch.“
„Die hätten ein Messer haben können.“
„Hatten sie aber nicht, Mama.“
Marcus fühlte sich taub, als er Frank fragte, wo Karsten gestern war und erfuhr, dass ihr beider alter Freund weggelaufen war, gleich nachdem der unglaubliche Norbert Marcus in den Rücken getreten hatte. Marcus fühlte sich taub, als er Katharina anrief, um ihr von der Sache zu erzählen. Einen Norbert kannte sie nicht. Sie bedauerte, was ihm widerfahren war und wollte sich mit ihm treffen.
„Diese Leute suchen doch immer nur einen Vorwand, um anderen auf's Maul zu hauen“, sagte sie. „Wie geht’s dir?“
„Erstaunlich gut“, sagte er und glaubte sich selbst nicht. Marcus fühlte sich noch taub, als sein Gesicht die natürliche Blässe wieder hatte und eine kleine, nahezu unsichtbare Narbe auf der Stirn das einzige Brandzeichen blieb, das ihn an den Abend erinnerte, heute noch erinnert und ihn auch als alten Mann erinnern wird.
Marcus fühlte sich taub im Zivildienst, dessen Zeit im Frühjahr begann, und das war die Zeit, als er zum ersten Mal versuchte, die Taubheit zu definieren.
Er hatte keinen Spaß mehr, an nichts, wie er feststellte.
Wenn er Katharina traf (was er mittlerweile sehr regelmäßig tat), wenn er seine Freunde traf, wenn er las oder wenn er die kleinen Dinge betrachtete, die ihn bisher lächeln ließen (eine Großmutter, die ihrem Enkelkind ein zweites Eis besorgte, weil das erste zu Boden fiel, und damit die Tränen zum Versiegen brachte; ein küssendes Pärchen an der Alster, in dessen Augen die Liebe dieser Welt verborgen lag; Raben, die eine Mülltonne so lange beobachteten, bis kein Mensch mehr in der Nähe war, und dann sich auf sie stürzten, um nach Essensresten zu suchen; diese Liste war endlos).
Am schlimmsten war, dass Marcus keine Freude mehr dabei empfand, seine Tricks zu proben und weitere zu erlernen, das Kartendeck in der Hand zu haben und zu mischen. Die Videos von Damon Black zu schauen und auch beim wiederholten Mal zu staunen und zu fühlen, nein, zu wissen, dass dies auch sein Weg war. Marcus war eine Hülle geworden, die mechanisch wie ein Mensch reagierte.
Vielleicht war die Taubheit eine Strafe, die er erhielt, weil er sich nicht gewehrt hatte. Das war die einzige Erklärung, die er sich geben konnte.
Ein Mal jedoch war er sehrwohl in der Lage, diese Taubheit zu vertreiben und sie durch pure Ekstase zu ersetzen. Dieser Moment brachte ihn dazu, zu Veronika zurück zu gehen und die Therapie nach sieben Jahren wieder aufzunehmen, oder besser, eine zweite zu beginnen. Diesmal war es die Realität, die er nicht verarbeiten konnte. Von Fiktion war keine Spur mehr.
An einem Sommerabend im Jahr nach dem Überfall war Marcus wieder mit Karsten und Frank unterwegs. Karsten hatte sich nie entschuldigt, weggelaufen zu sein. Eigentlich sparte er die Frage grundsätzlich aus, wo er gewesen war, und Marcus fragte ihn nicht, weil er sich dumm vor kam, seinem Freund Feigheit vorzuwerfen. Eines Tages war Karsten einfach bei Marcus zu Hause aufgetaucht und hatte ihm gesagt, wie leid es ihm tue, dass er diese Wunden hatte, und betont, dass „dieser Wichser mal richtig einen auf's Maul kriegen
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