Blanks Zufall: Roman
muss“.
Dann kam der Sommerabend und Marcus' Revanche. Er entdeckte die lange Nase und die kurzen, blonden Haare zuerst, im Gemenge eines Clubs, den die drei Freunde bisher immer gemieden hatte, weil sich dort „Prolls und anderes Gesocks“ herum trieben. Ein idealer Ort also für einen Norbert.
Marcus griff nach einer leeren Flasche von der Bartheke, wanderte so ruhig und taub, wie er sich seit Monaten fühlte, durch die Menge auf Norbert zu und knallte ihm die Flasche auf den Kopf. Das Glas zersprang nicht wie in Filmen und Marcus' Waffe gebrauchte er noch zwei weitere Male, ehe mehrere Türsteher ihn aus dem Haus schafften.
Die Frauen um ihn kreischten, die Männer schauten verängstigt oder abschätzig. Letzteres um zu verbergen, dass auch sie verängstigt waren. Marcus hielt für einen Moment den gesamten Betrieb auf, er veränderte den Moment, es war sein Moment und er kam dem Moment auf der Bühne, wenn das Publikum den Zaubertricks folgte, verdammt nahe.
Norbert kam ins Krankenhaus. Und verklagte Marcus. Denn anders als Norbert, der ohne polizeiliche Aufnahme entkommen war, warteten die Türsteher mit Marcus auf die Ordnungshüter, die seine Personalien aufnahmen. Marcus wurde verurteilt, Marcus bekam einen Eintrag in das polizeiliche Führungszeugnis. Aber Marcus war es egal, denn längst hatte seine Taubheit wieder gesiegt, und der Moment der Euphorie, der Rache, war gewichen.
Dann folgte das regelmäßige Kiffen und Marcus hörte auf zu trinken. Manche sagen, es gibt zwischen diesen beiden Drogen keine bessere Alternative, aber Marcus dachte, der Alkohol hatte ihn da rein geritten, das Kiffen wird ihn wieder heraus holen.
Bevor er seine Therapie abbrach, als er zu studieren begann, meinte Veronika, sie stünden kurz vor einem Durchbruch, weil Marcus endlich zugab, dass er diese Taubheit schon seit seiner Kindheit spürte, nur nicht so stark, und es möglicherweise, nur vielleicht, mit der Abwesenheit seines Vaters zu tun haben könnte, diesem „Bastard, der sich einen Scheiß um mich schert und nie zu Besuch kommt“.
Aber Marcus begann nicht zu kiffen, weil er seine Taubheit mit etwas anderem betäuben wollte, sondern weil er gelernt hatte, dass er seine Taubheit mit Gewalt vertreiben konnte. Und das machte ihm Angst. Wenigstens etwas, dachte er.
DANN KAM ANNA...
Kapitel 2
Anna und die Watte
MARCUS BLEIBT STEHEN, obwohl Platz auf dem Sofa ist. Dort, wo jetzt Tim und Maurice sitzen, lag er zu häufig, zugedröhnt und mit der Nichtigkeit seiner Gedanken beschäftigt, ein endloses Abschweifen vom Abschweifen. Marcus könnte jederzeit gehen ohne zu erklären, wieso. Sie würden ihn sowieso nicht verstehen. Gehen, ohne überhaupt irgendein weiteres Wort mit Karsten zu wechseln, der darauf wartet, dass Marcus etwas sagt. Ohne etwas zu kaufen, könnte er gehen.
Nein, korrigiert er sich, kaufen muss ich hier, für Anna.
Marcus wendet seinen Blick vom Fernseher ab. Die Sofasitzer spielen einen Ego-Shooter, töten unbenannte Kreaturen mit fantasierten Waffen. An einem Tisch hinter dem Sofa sitzt Karsten, in einen braunen Bademantel gehüllt, der schon seinem Vater gehörte. Damals, noch zu Schulzeiten, wenn Marcus Karsten besuchte, sah er Herrn Winter zu Hause in nichts anderem gekleidet, und sein Sohn führt diese Tradition jetzt fort.
„Also, wie viel willst du, Blank?“ fragt er Marcus endlich und überschlägt die Beine. Dabei rutscht der Bademantel hoch und die ausgefransten Nahtstellen teilen sich zu einem V. Unter der Glasplatte entblößen sich behaarte Oberschenkel, dürr und bleich. Vor Karsten auf dem Tisch liegen kleine, durchsichtige Plastiktüten und eine Waage.
Marcus schaut zum Fernseher zurück. Eine Waffe fliegt durch die Luft, der Held aus der Ego-Perspektive. Maurice steuert seinem nächsten Gefecht entgegen. Die Grafik ist bestechend real, ein apokalyptisches Abbild der Welt, in der Marcus lebt. Oder ein Abbild, das seiner nur an der Oberfläche ähnelt. Darunter bleiben Bits und Bytes, einfache Bilder, die den Blutdurst der Spieler stillen sollen.
„Für Zwanzig, wie immer“, sagt Marcus und starrt noch immer auf den Fernseher. Es fällt ihm schwer nicht hinzuschauen. Vielleicht bauen sie da Mikrochips ein, denkt er, die auf die Augenzellen eine hypnotische Wirkung haben und das gesamte lymbische System durch kleine magnetische Wellen beeinflussen, damit wir hinschauen müssen, und auch wollen.
Karsten greift mit seiner ebenso bleichen, rechten Hand neben
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