Blanks Zufall: Roman
einen?“
„Nein.“
„Zeig mal!“ sagte der alte Mann und alles änderte sich. Der Moment änderte sich. Der alte Mann änderte mit diesen zwei Worten den Moment, der alles veränderte.
Der kleine Junge wollte nicht seinen Bauch zeigen. Er war zu jung, um schon die sexuelle Scham zu spüren, aber er spürte ganz eindeutig, dass hier irgendwas nicht stimmte.
„Nee, möchte ich nicht.“
„Na, komm schon“, sagte der alte Mann und erhob sich, sein Oberkörper schwabbelte.
„Ich will jetzt die Fotos sehen“, forderte der kleine Junge.
„Das hat doch Zeit. Jetzt zeig' mir doch erstmal deinen Bauch, dann können wir doch mal vergleichen. Oder bist du etwa schüchtern, Kleiner?“
Da erhob sich der kleine Junge ebenfalls und rannte zur Wohnungstür (Glück war ihm hold, dass sie nicht verschlossen war). Es war nur ein kleiner Impuls, ein unbewusster Rat gewesen, hier zu verschwinden, eine Epiphanie, die schrie, dass der alte Mann gelogen hatte, dass er gar keine Fotos von sich und dem Vater hatte, dass er ihn gar nicht kannte. Auch wenn sich der kleine Junge nicht erklären konnte, warum der alte Mann so etwas erlog, nur um seinen Bauch zu sehen, aber es war falsch, das wusste er genauso wie er wusste, dass er sieben Jahre alt war.
Falsch, falsch, falsch!
Als der kleine Junge aus dem Haus kam, rannte er so schnell er konnte, und es tat gut, dieses Weglaufen. Den alten Mann, den sah er nie wieder, weil er nie wieder in diesen Kiosk ging.
Und keiner seiner Freunde konnte ihn je dazu überreden.
ZUHAUS BEI SEINER Mutter lag dem kleinen Jungen eine Frage auf der Zunge, eine Frage, über die er noch nie nachgedacht hatte und die er bis zu dem Besuch in der Wohnung des alten Mannes nicht einmal gekannt hatte. Sie war neu, diese Frage, so neu wie die Erkenntnis, dass Wahrheit erfunden werden konnte und nur wahr blieb, solange sie jemand glaubte.
„Mama! Hast du mich über Papa angelogen?“
Die Mutter des kleinen Jungen schien nicht überrascht, vielleicht hatte sie darauf gewartet, dass er eines Tages danach fragen würde, nicht so früh vielleicht, sieben Jahre ist dafür doch ein bisschen zu jung.
„Was meinst du damit, angelogen?“
„Will Papa mich überhaupt sehen?“
Sie stutzte. „Du willst die Wahrheit?“ Wie seltsam, diese Frage einem kleinen Jungen zu stellen.
„Ja, Mama, ich will die Wahrheit“, sagte er, auch wenn er nur wiederholte, was sie gesagt hatte. Doch schon ihre Frage, ob er die Wahrheit wollte, zeigte, dass der kleine Junge Recht hatte, sie hatte gelogen. Jeder log nun in seiner kleinen Welt. Und er verstand nicht, warum.
Sie seufzte.
„Also gut“, sagte sie dann und setzte sich auf das Sofa. So traurig, dachte der kleine Junge, Mama war traurig, das wollte er nicht. „Dein Papa weiß zwar, dass du da bist, und die erste Zeit hat er sich auch rührend um dich gekümmert, er hat mir geholfen, wo er nur konnte, aber als du drei Jahre alt warst, ist er nach Amerika zurück, weißt du, er war ja nur als Soldat hier und seine Zeit war um. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Er hat sich nie gemeldet, wollte nicht mal wissen, wie es dir geht. Gar nichts.“
Ungebetene Stille nach ihren Worten, die sogleich laut war, als drehte sich ein Karussell im Kopf des kleinen Jungen. Jetzt musste er glauben, was seine Mutter sagte. Die angenehme Wärme der Lügen war erkaltet. Wahrheit, mehr und mehr, hielt Einzug in seine kleine Welt.
„Warum hast du mich angelogen, Mama?“ schluchzte der kleine Junge. Da brach es aus ihr heraus: „Ich weiß es nicht“, sagte sie unter Tränen. „Weil es einfacher war vielleicht, für mich. Und für dich. Du brauchst doch einen Vater, jeder braucht einen Vater. Und deiner, der ist nicht da, und ich wollte, dass er da ist.“
„Ich will auch, dass er da ist“, weinte der kleine Junge.
Aber er ist es nicht, dachte er. Diese bittere Süße, Mutter und Sohn schmeckten sie beide an diesem Tag.
JAHRE SPÄTER, ALS aus dem kleinen Jungen ein hochgewachsener, junger Mann geworden war (bei der Körpergröße war er ein Spätzünder gewesen), las er über den alten Mann in der Zeitung. Das Gesicht erkannte er, obwohl gealtert und verlebter, sofort.
„Das ist der Kinderschänder aus Hamburg!“ schrie die Titel-Überschrift. „Hagen K. in U-Haft, wann wird er endlich verurteilt?“, fragte die Zeitung darunter, und der Artikel las sich genauso reißerisch. Aber das war die Realität. Ganz gleich wie
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