Blanks Zufall: Roman
Fünfundzwanzigjährige, zaghaft lächelnd, geht zum Tisch und nimmt sich einen Becher, aus dem es dampft (jenen Becher mit der Aufschrift „Boss“, den er immer benutzt, wenn er seine Mutter besucht). Stehend trinkt er, schlürft, wie er immer schlürft, wenn der Kaffee zu heiß ist, und auch wenn ihn nun alle dabei beobachten, fühlt er sich kurz normal.
Es ist immerhin seine Familie, verdammt, und sie können nichts dafür, für nichts. Sollen sie etwa das tiefe, schwarze Loch kompensieren, dass er den ganzen Tag und die Nacht davor spürte? Soll er mit seiner Gram und dem Schmerz das Umfeld verpesten, bis jeder von ihnen angesteckt ist? Trauer ist wie die Panik ein Virus, von dem man leicht angesteckt wird. Viele würden sich nach solch einem Erlebnis vielleicht gehen lassen. Aber ich bin nicht wie viele!, denkt Marcus verbissen, und ich reiße mich zusammen.
Zusammenreißen bedeutet, der Torte Aufmerksamkeit zu schenken, und den Geschenken. Und die Kerzen auszublasen und sich etwas zu wünschen (dass es nie geschah und Marcus nur einen Albtraum hatte und Jenny ihn gleich anrufen wird und zum Geburtstag gratuliert). Keiner sagt ein Wort, als Marcus die Umschläge öffnet. In jeder Karte findet er den Absender, eine ist von seiner Oma und die andere von seiner Mutter und Michael, drei Hundert-Euro-Scheine erhält er insgesamt, die lose beigelegt sind.
„Das ist von mir“, sagt Laura, als Marcus nach dem Geschenk greift, auf dessen Papier unzählige Luftballons gedruckt sind. „Das musst du als Letztes aufmachen.“
Er öffnet dann zuerst das andere, schlicht einpackt wie das von Henning (Damon Blacks Buch erinnert er nun; dass es noch immer zu Hause auf ihn wartet; dass er es gar nicht wahrnahm, als er für eine Stunde aus dem Krankenhaus zurück kehrte, um zu duschen und die Kleidung zu wechseln).
„Es ist nur was Kleines zum Umschlag“, sagt seine Mutter, ihre ersten trivialen Worte tun gut, „sonst sieht das doch so wenig aus hier.“ Und sie lächelt wieder, ihre Augen sind müde, die Falten um sie zeugen von den vielen Stunden und Nächten und Jahren, die sie im Krankenhaus schon arbeitet, immerzu im Angesicht von Leid; und wahrscheinlich hat sie auch gestern Nacht gearbeitet und muss heute wieder hin.
Das Geschenk offenbart eine Packung Schokolade. Als Marcus Lauras Geschenk erneut in die Hand nimmt, ist es wieder da, das Bild von Jennys Leichnam. Und diesmal lässt es sich nicht so leicht vertreiben. Er legt das Geschenk wieder hin, murmelt etwas, das er selbst nicht versteht, und geht hinaus in den Flur.
Marcus lehnt über dem Tresen, und da liegt sie, nein, es ist nicht mehr Jenny, nicht die Person, das Wesen, das er so mochte, sondern nur ihre Hülle, auseinander gerissen und nicht mehr heilbar. Ihre Augen sind leer, denkt er, warum fiel mir das gestern nicht auf? Ihre Augen sind so leer, so ohne jedem Wiedererkennen, wenn sie ihn anschaut, was sie gar nicht tut, aber selbst wenn ihre Augen ihn nun anschauen würden, dann erkennen sie ihn nicht mehr.
Ihr Körper ist nun in seine einzelnen Teile zerfallen, und Auge und Mund, und Hände und Herz, und alles, einfach alles, ist nicht mehr verbunden, mit Jennys Zentrum, dem Gehirn, oder der Seele, wo auch immer die ist. Die Person ist weg und zurück bleibt ihr Vehikel, ihr Schatten, ihre Vergänglichkeit. Und Marcus hat Angst, dass auch die Person vergeht wie der Körper, und dann hat Nichts einen Sinn, weil Nichts Bestand hat, aber es muss etwas Bestand haben, irgendwas, verdammt, Erinnerungen, die unabhängig von mir weiter existieren.
Als Laura ihm eine Hand auf die Schulter legt, bemerkt Marcus erst, dass er im Flur an einer Wand hockt, die Hände vor dem Gesicht und schluchzt, und die Wangen sind nass von Tränen.
„Erzähl uns, was passiert ist, Blank“, sagt sie. „Komm' mit ins Wohnzimmer und erzähl es uns.“
Marcus schüttelt den Kopf, wischt sich mit den Handrücken über die Wangen und richtet sich langsam auf, bis er seine Stiefschwester wieder überragt. Sie nimmt ihn bei der Hand und führt ihn ins Wohnzimmer, dejá vu, aber die Kerzen sind aus und Besorgnis schreit nun aus den Gesichtern der Anwesenden.
„Es ist so furchtbar, was passiert ist“, sagt Claudia endlich, und Michael nickt. „Und wir wissen nicht..., ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Marcus, ich würde dir so gerne nehmen, was passiert ist.“
„Kannst du aber nicht“, erwidert er und setzt sich auf den freien Stuhl, den Platz, auf dem er
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