Blanks Zufall: Roman
geistigen Auge auf, wie sie ihm einmal ins Gesicht schlug, mit ihrer Faust, so stark sie konnte, und der Schlag Marcus zu Boden brachte. So abscheulich er den Gedanken findet, aber das ist, was er nun braucht, einer ihrer Kämpfe, die sie in den letzten Monaten austrugen.
„Claudia weiß nicht, wie sie mit dir umgehen soll“, sagt Laura, während sie ihrem Stiefbruder die Pflaster auf die gereinigten Wunden klebt, voll kindlichem Eifer, „das habe ich vorhin gehört. Sie haben über dich geredet, Blank. Ich weiß nicht, was Papa über das Ganze denkt, aber Claudia hat Angst, glaub ich. Sie sagte, sie sei Krankenschwester und eigentlich muss sie doch wissen, wie man mit sowas umgeht. Sie weiß es immer, aber nicht bei dir, weil du ihr Sohn bist. Papa und sie haben über dich in der Zeitung gelesen.“
„Das habe ich mir gedacht“, antwortet Marcus und fügt ein kurzes „Au“ hinzu, als Laura mit einem Pflaster zu doll drückt.
„Entschuldigung.“
„Macht nichts, Lauri. Danke dir.“
„Das mache ich doch gern“, sagt sie und blickt von ihrer Arbeit kurz zu ihm hinauf, mit ihrem kindlichen Lächeln, das eine Reihe von blanken, weißen Zähnen offenbart. Er findet kein Anzeichen von Mitleid darin oder der Furcht mit ihm zu reden. Ihr Lächeln ist unverfälscht und harmlos. Ihre Stupsnase verzieht sich dabei leicht und ihre Augen leuchten wie Sterne, die Marcus gestern vermisste.
Der volle Mond leuchtete so hell, dass kein Stern zu sehen war. Eine sternlose Nacht, denkt er, wie passend, und verdrängt das Bild von Jennys Leichnam, das plötzlich vor seinen Augen erscheint, wie ein Fluch kehrt das Unheil der letzten Nacht zurück. So viel Blut, denkt er, zerfetzte Haut, auseinander gerissener Körper, und konzentriert sich auf das Gespräch mit Laura. Es muss weitergehen, verdammt, und er zwingt sich auf die Hände seiner Stiefschwester zu schauen, wie sie nun den Verband um die Pflaster binden, ihre rot lackierten Fingernägel. Er schaut auf ihren Kopf, die nussbraunen Haare, die nach Shampoo duften und sich in der Mitte zu einem Scheitel teilen.
„Ich meine auch danke, dass du mich da raus geholt hast.“
„Wir können auch hier bleiben und warten, bis alle weg sind.“
Marcus lächelt. Das Bild ist verschwunden (aber er weiß, dass es wieder kehren wird; es lauert). Der Gedanke, sich an seinem eigenen Geburtstag im Badezimmer einzuschließen, ist absurd und zaubert tatsächlich ein Lächeln auf seine Lippen. Lauras Fremdheit ist vergangen und er erinnert sich, wie er vor einiger Zeit dachte: Ich liebe dieses Mädchen. An den Moment kann er sich nicht mehr erinnern; wann das war; es gibt immer diesen einen Moment, der dir die Augen öffnet, für irgendwas.
„Nein, wir können nicht hier bleiben“, sagt er dann.
„Na gut, ich bin fertig, Blank.“
Marcus schaut auf seine verbundene Hand, bewegt seine Finger und nickt dann.
„Danke“, sagt er, „das ist ziemlich professionell.“
Laura lächelt schüchtern. Es ist eines von diesen offensichtlichen Komplimenten, das Kindern gemacht wird, weil es sie in ihrem Selbstvertrauen stärken soll. Obwohl Marcus nicht findet, dass es seiner Stiefschwester daran mangelt. Mit derselben eleganten und doch so förmlichen Körperhaltung stemmt sie nun ihre Hände in die Hüften und antwortet mit der ihr eigenen Selbstverständlichkeit:
„Weißt du eigentlich, wie oft ich meine Füße verbinden muss? Da lernt man so einiges.“
Marcus erhebt sich vom Toilettendeckel und überragt seine Stiefschwester um ihre eigene Körpergröße. Sie greift wieder nach seiner Hand und öffnet die Badezimmertür. Der Flur ist leer, die anderen sitzen wahrscheinlich im Wohnzimmer, warten und besprechen, wie sie mit ihm umgehen sollen. Kaffee und Kuchen, alles duftet in dieser Wohnung nach einer Feier, und Marcus fühlt sich sicher, sie durchzustehen. Er darf bloß Laura nicht loslassen, dann ist alles gut, denkt er und lässt sich von ihr in das Wohnzimmer führen, wo brennende Kerzen auf einer Torte auf ihn warten (einer Schokoladentorte; die einzige, die seine Mutter selber macht und die einzige, die er mag), und Geschenke und Umschläge, jeweils zwei an der Zahl, um sie herum. Herzlichen Glückwunsch, denkt er, aber keiner spricht es mehr aus. Seine Mutter und Oma sind in ein flüsterndes Gespräch vertieft, das sie unterbrechen, als Michael sich räuspert. Er sitzt als einziger mit dem Gesicht zur Tür, durch die Laura nun Marcus führt.
„Kaffee?“ fragt der
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