Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
spurlos und unbemerkt die Übeltäter vorgegangen waren, und wenn er die Ermittlungsberichte der örtlichen Polizei las und über den Skizzen zum sogenannten Unfall brütete, musste er sich bemühen, nicht wie so viele andere an ein göttliches Schicksal zu glauben. Die Feier mit Pauken zu bespielen, die Windmaschine zu entwenden und Flugblätter zu verteilen, konnte als kleiner Scherz abgetan werden – doch der Engel gab ihm zu denken. Rational war es eigentlich unerklärbar, wie der Engel hundertfünfzig Jahre lang hatte unbewegt dastehen, viel schlimmere Unwetter überdauern und dann von einer Theaterwindmaschine gestürzt werden können. Und während er zwischen natürlicher und transzendenter Erklärung schwankte, beschloss Gernot Luftinger, zur Sicherheit Johannes A. Irrwein im Auge zu behalten. Nachdem der Digamma-Klub so unbemerkt, wie er seit jeher agiert hatte, verschwunden war, war dieser Knabe aus der fünften Klasse das letzte Überbleibsel jener suspekten Schülervereinigung. Luftinger, der wie jeder Direktor zwei Klassen unterrichten musste, teilte sich also in den folgenden Sommerferien die Geschichtsstunden von Johannes A. Irrweins Klasse zu. Er wollte ein Auge auf den Burschen werfen, denn er hatte das Gefühl, dieser wisse Dinge, die ihm verborgen waren, und nichts hasste Luftinger so sehr wie das Verborgene, vor allem, wenn es in Engelsgestalt auf ihn stürzte.
[Eine Frau als Kaiser, Notizbuch II]
[7.9.] Wie nun erzählt wird, hatten die Bergbarbaren einige Jahre Ruhe, bis die weltliche Macht darauf aufmerksam wurde, daß es inmitten der Sporzer Alpen ein Dorf gab, über welches das Herrscherhaus keine Kontrolle hatte. Den damaligen Herrschern ging es, wie deren Geschichtsschreiber behaupten, weniger um Einnahmen als um die Festigung ihrer Weltanschauung und deren Einfluß auf jeden Untertan. Ich aber halte das für unglaubwürdig, denn kein Herrscher, der je unter dem Himmel der Götter regierte, ist Steuern nicht zugetan gewesen. [8.0.] Der Reiterei der Kaiserin mit dem Doppelnamen, die eines Tages das Dorf aufsuchte, standen die Bergbarbaren mit ihren Mistgabeln und Dreschflegeln machtlos gegenüber. So wurden sie also tributpflichtig gegenüber dem Herrscherhaus und bekamen einen Statthalter, der kontrollierte, ob alle Erlässe der Kaiserin umgesetzt wurden. [8.1.] Was die Quellen zwar nicht berichten, aber was mir ziemlich naheliegend erscheint, ist, daß die Bergbarbaren zu jener Zeit einen tiefen Haß gegenüber der Obrigkeit entwickelten. Zum einen war es ihrem patriachalischen Wesen unlieb, daß sie von einer Frau regiert wurden, da sie damals noch der Überzeugung waren, die Frau stünde unter dem Manne, und ich kann berichten, daß es einzelne gibt, die dies noch heute glauben. [8.2.] Vor allem aber gräulte sie, daß eine Schulpflicht eingeführt wurde. Die Kinder wurden bis zu dieser Zeit für die Arbeit auf dem Feld gebraucht, doch nach jenem Erlaß mußten sie vormittags lesen und schreiben lernen, zwei Tätigkeiten, gegen die die Bergbarbaren auch in der heutigen Zeit noch Aversionen haben, wie ich selbst sah. Ich nehme an, daß eines ihrer Hauptprobleme von jeher war, daß sie nicht so schreiben können, wie sie sprechen, denn bei den Bergbarbaren verhält es sich so, daß die Sprache, in der sie sich unterhalten, gänzlich anders ist als das, was in der Alpenrepublik für schriftliche Zwecke genutzt wird. [8.3.] So also wurden die Bergbarbaren gegen ihren Willen in die Kunst der Schrift eingeweiht – und schürten in ihren Herzen großen Unmut gegen die Zivilisierten, die sie von nun an nicht nur als unerwünschte Fremde, sondern als Feinde betrachteten.
Solon! Solon! Solon!
Der 1. Juni 2010, der Tag von Johannes A. Irrweins mündlicher Matura und dem ersehnten Ende von siebzehneinhalb Jahren zwischen Kühen und Bergbauern, begann damit, dass er erstmals in seinem Leben die St.-Petri-Luft als frisch, klar und rein empfand, während er vor der geöffneten Balkontür stand. Es war noch so früh, dass der Tau all die herzförmigen Blätter der Pelargonien zum Schimmern brachte, während die Blüten zusammengerollt auf die Sonne warteten. Johannes wollte hinaustreten, bremste jedoch kurz vor der Schwelle ab. Genau in der Mitte des Balkons drapiert lag eine tote Maus. Der Kater Petzi schmiegte seinen Kopf an Johannes’ Unterschenkel und verfiel in kräftiges Schnurren, als hätte er einen Traktorenmotor an der Stelle, wo andere Katzen einen Kehlkopf hatten.
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