Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
gefangen wurden wie die ersten dicken Schneeflocken nach Wintereinbruch. Es waren die gesammelten Schriften der Widerstandsbewegung, noch ausführlicher und mit noch treffenderen Karikaturen verziert. Der Wind wurde stärker, kam als Strahl aus den Arkaden Richtung Schulhof, und der Musiklehrer ahnte als Erster, dass dies die brandneue Windmaschine war, die der Trägerverein ebenfalls für die Schuljahrsendaufführung angeschafft hatte, bei dem der Chor als Engel verkleidet über die Bühne schweben sollte. Er verriet jedoch keinem, woher dieser Spuk kam, sondern beobachtete andächtig den Wirbelwind an Papier, die irritierten Aufsichtsräte und Luftinger, der wie angewurzelt hinter seinem Rednerpult stand, als könnte er seine Autorität dadurch bewahren, dass er das Podest nicht verließ. Doch an diesem Tag hatten höhere Mächte entschieden, ihn zu stürzen, und während das versammelte Kloster und zwei Drittel der Schüler an die Rache der Engel dachten, wusste Johannes, dass es die Macht des Verborgenen war, die den Keil unter dem Zeh der Nike entfernt hatte, als die Statue plötzlich zu wanken begann. Luftinger registrierte nur die angespannt-entsetzten Gesichter vor ihm, nicht aber, was hinter ihm geschah. Er musste erst von steinernen Schwingen bedeckt werden, in der Podiumstribüne einbrechen und derart gefangen fünf Stunden lang unter dem Busen des Engels ausharren, bis ein Kran kam, ihn zu befreien, um zu verstehen, weshalb er derart angeblickt worden war.
An diesem Tag vermerkte Johannes A. Irrwein zum ersten Mal seit Langem Notizen in den Chroniken des Digamma-Klubs , bevor er die fünf Schulhefte aus eineinhalb Jahren mit einem Gummiband zusammenschnürte, in eine Geldkassette steckte und unter einer losen Planke im Fußboden seines Zimmers verbarg. So weit kann der Mensch gar nicht zählen, um die Anzahl jener Schutzgötter, Daimonia oder Engel zu erfassen, die an diesem denkwürdigen Nachmittag ein schweres Unglück verhinderten, begann er den letzten Eintrag über den Digamma-Klub. Wie weit darf man gehen, um unliebsamen Menschen das Leben zu erschweren? Kann denn jedes Mittel recht sein, um gegen Mißstände anzukämpfen? Bei den Barbaren vielleicht, aber nicht bei zivilisierten, denkenden Menschen. Herodot erzählt im ersten Buch von den Skythen, die einst von Kyaxares schlecht behandelt worden waren und sich dadurch rächten, daß sie einen seiner Knaben wie Jagdbeute zurichteten und dem Kyaxares zum Essen servierten. Solche Grausamkeiten sollten uns eine Lehre sein, daß wir mit anderen Mitteln zu kämpfen haben, doch leider sind auch unter den Zivilisierten manche bereit, für den Sturz eines Tyrannen alles in Kauf zu nehmen.
Severin Dietrich, Albert Fenner, Mauritz von Baumberg und Ferdinand Blumbach für ihren Teil nahmen in Kauf, nicht im Benediktinergymnasium von Lenk im Angertal zu maturieren. Wie erst später bekannt wurde, hatten sie schon zwei Wochen vor Luftingers Angelobungsfeier ihren Schulwechsel eingeleitet und legten die Abschlussprüfungen letztlich mit Bravour im Flachland ab, wohin sie bereits am Wochenende vor dem Zwischenfall gezogen waren, wie sie es ohnehin im Herbst für den Beginn ihres Studiums getan hätten. Keiner verabschiedete sich von Johannes, doch er wusste, dass diese Störung der Angelobungsfeier und die große Demütigung Luftingers ihr Abschiedsgeschenk an ihn gewesen waren. Nicht einmal die später eingeschaltete Polizei fand einen Anhaltspunkt auf die Urheber dieser von ihnen so bezeichneten Störaktion , respektive des versuchten Mordes , wie Luftinger den Vorfall nannte. Und außer Johannes schien niemand um den Keil unter Nikes Fuß zu wissen. Nicht einmal der Steinmetz, der später die Statue zusammenflickte und ihren Fuß mit einer achtzehn Zentimeter langen Schraube fixierte, schien das Geheimnis entdeckt zu haben. Er brummte lediglich, es sei ein großes Wunder, dass der Engel so lange den Gesetzen der Statik getrotzt habe.
Nachdem sich Luftinger von einem Dutzend blauer Flecken und einigen Prellungen erholt hatte, wurde er tatsächlich moderater und beschränkte sich im Großen und Ganzen darauf, die Klassenräume neu streichen zu lassen und die alten Overheadprojektoren durch Beamer zu ersetzen. Bei all jenen, die an den Zimmerdecken angebracht wurden, prüfte er höchstpersönlich, ob sie fest genug verschraubt waren. Der Schrecken saß ihm noch in den Knochen. Luftinger vermutete zwar den Digamma-Klub dahinter, aber es war unheimlich, wie
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