Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
haben nur gewartet, bis du es selbst rausfindest. Du weißt, Ziel des Digamma-Klubs war immer, hinter die Materie zu dringen. Aber jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt, geh bitte.« Johannes starrte Mauritz ungläubig an. Stille breitete sich in dem ehemaligen Abstellraum aus, den der Griechisch-Lehrer den Putzfrauen abgeluchst hatte, um seinen Unterricht an einem Ort abhalten zu können, an dem nichts anderes unterrichtet wurde. Korinthische Säulen hatte er auf die Wände malen lassen, überall hingen Fotokopien von Dichterbüsten und Vasenmalereien, auf der Tür ein Poster der Ägäis, im Vordergrund Tempelruinen und Olivenhaine, in der rechten Ecke der Slogan eines Reisebüros und ein Werbespruch, über den schon viele Griechisch-Schüler den Kopf geschüttelt hatten. Ferdinand seufzte schließlich und fasste sich nach dem Blick auf die Uhr ein Herz. Er sah Johannes mitleidig an und fragte:
»Aber erzähl kurz, wie bist du draufgekommen? Hast du Bilder von ihr gesehen?«
Als Johannes verneinte, sahen ihn auch die anderen drei an. Sie alle hatten die Nike als solche identifiziert, nachdem sie Kopien von ihr an anderen Orten gesehen hatten. Und so vergaßen die strengen Maturanten für einen Augenblick den Abstand, den zu halten sie sich geschworen hatten, und wurden neugierig, auf welche Art und Weise Johannes zu seiner Erkenntnis gelangt war.
»Gar keine Bilder. Ich hab die Chroniken der Schule gelesen, und da war ein Vermerk zur Nike. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie vom französischen Vizekonsul im Osmanischen Reich entdeckt, der hat sie zusammengesetzt und nach Paris bringen lassen, Kopien wanderten aber in die ganze Welt und eine auch an den kaiserlichen Hof. Zuerst stand sie bei den anderen Plastiken im Garten der Sommerresidenz Schönbrunn, aber die Kaiserin wurde eifersüchtig, weil der Kaiser jeden Tag davorstand und den Busen der Nike bewunderte. Die Kaiserin schickte sie dorthin, wo kein Mann sie bewundern würde, nach Lenk ins Kloster, und behauptete, sie sei ein Engel.«
Johannes fühlte wohlige Wärme in seiner Brust, als er die gespannten, liebevollen Augen sah. Für einen Moment war alles wie damals, als er einmal in der Woche zwei Stunden lang volle Aufmerksamkeit bekommen hatte, um aus seinen Chroniken zu lesen. Er wünschte, dieser Moment würde nie vergehen, und so beeilte er sich weiterzuerzählen:
»Das Interessante an der Lenker Kopie ist, dass der Bildhauer gepfuscht hat. Sie steht nämlich nur durch einen Keil unter dem Zeh, der so geschickt eingepasst ist, dass man ihn nicht erkennt. Würde der Keil jedoch fehlen, könnte ein jeder Windstoß die Nike von ihrem Thron stoßen.«
Mauritz, Ferdinand, Severin und Albert sahen einander an, Johannes blickte zwischen ihnen hin und her, versuchte vergeblich, ihre Blicke zu deuten.
»Gut gemacht, Johannes«, sagte Albert, und alle klopften ihm auf die Schultern. Für eine halbe Minute, bis der Griechischlehrer mit einem Berg Lexika zur Tür hineingestolpert kam, schien alles wieder gut.
Luftinger hatte seine Angelobungsfeier aufgrund des offenen Widerstandes immer weiter hinausgeschoben, und als das Schuljahr bereits so weit fortgeschritten war, dass niemand mehr daran dachte, gab er als Datum den 3. Mai 2007 bekannt. Pater Jeremias war der Erste, der die Ankündigung am schwarzen Brett der Schule las. Die senile Altersbettflucht trieb ihn meist zwischen vier und fünf Uhr früh aus dem Bett. Als er nun von der geplanten Feier las, durchfuhr den alten Pater eine Vorahnung – er griff sich ans Herz, spürte Schmerzen im rechten Arm, in der Brust und musste schließlich, als die ersten Schüler die Schule betraten, ins Krankenhaus gebracht werden. Die Sanitäter spannten ihm eine Sauerstoffmaske um den Mund, doch als Pater Jeremias den Digamma-Klub zwischen den Schülern erspähte, kehrte das Leben in seine Glieder zurück, und so nahm er die Maske ab, stützte sich auf der Trage hoch und rief ihnen entgegen:
»DAS UNHEIL IST UNTER UNS!«
Der Digamma-Klub nickte wissend. Der Rest der Schule wie des Konvents nahm Pater Jeremias von da an etwas weniger ernst. Sie meinten, dass er nun wohl wirklich alt würde.
An jenem 3. Mai 2007 sah es tatsächlich nicht nach Unheil aus. Zu Johannes’ großem Ärger war das Wetter pittoresk, und die Welt erstrahlte im schönsten Glanz. Der Schulchor hatte die musikalische Untermalung wochenlang einstudiert, der Hausmeister die Bühne genau unter der als Engel verklärten Nike von Samothrake
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