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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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Netze gespannt waren, um Steinschlag zu verhindern. Wie Adern durchzogen feine Quarzstreifen den dunklen Stein, auf dem an einzelnen Stellen Moose und Farne wuchsen. Johannes konnte verstehen, warum behauptet wurde, die Berge lebten. Die Straße war dem Anger regelrecht abgekämpft worden, dachte er, als er sich auf ihren ungastlichen Verlauf konzentrierte, und dann überlegte er, ob es Abschiedssentimentalität war, die ihn so staunend Anteil an der Fahrt nehmen ließ. Das nächste Mal, wenn er nach dem heutigen Tag diesen Weg bergab fahren würde, würde es, wie er wusste, zum Lenker Bahnhof sein, der außerhalb der Stadt am Talanfang lag. Daraufhin würde er die Regionalbahn besteigen, die ihn in die nächstgrößere Stadt brächte, wo er mit dem Fernreisezug den Alpen entflöge. Bereits in der kommenden Woche würde er Albert, Severin, Ferdinand und Mauritz in der Hauptstadt wiedersehen, die ihm vor drei Monaten einen Brief geschrieben hatten. Sie wollten ihm eine Führung durch die Universität geben, ihn bei seinen Immatrikulationsangelegenheiten unterstützen und ihn in den neuen Digamma-Klub einweihen, den sie als Studentenverbindung – nicht als Burschenschaft! – gegründet hatten.
    In der Kastanienallee auf dem Weg zur Eingangspforte des Klosters hatten pünktlich zum Junibeginn die Bäume zu blühen begonnen, nachdem ihnen der Mai ein prächtiges Blattwerk hatte angedeihen lassen. Anders als in St.   Peter war die Luft in Lenk überaus schwül, fast tropisch. Beim Blick in den Himmel sah Johannes eine sich vom Talausgang heranschiebende Wolkendecke, die in St.   Peter aufgrund des Hochnebels nicht erkennbar gewesen war, für drückende Schwüle im Tal sorgte und bald einen Regenguss bringen würde. Johannes war es egal, ob bei seiner Matura Regen oder Sonne herrschte, anders als seine Mitschüler hatte er keine Pläne für Pool- oder Grillpartys, sondern einen Knirps dabei. Hauptsache, er konnte endlich sein Leben in den Hochalpen beenden, seine Sachen packen und ein neues Leben im Dienste der Wissenschaft beginnen, dachte er, woraufhin es donnerte. Johannes beschleunigte seinen Schritt und blieb dann doch noch ein letztes Mal vor der Inschrift der Pforte stehen.
    »Huc venite pueri, ut viri sitis«, flüsterte er und antwortete im Durchschreiten: »Puer venit, ut vir exiat.«
    Für eine Woche im Jahr mussten sich die liebestollen Oberstufenpärchen andere ungestörte Orte suchen, da das Biologiekämmerchen in der Maturawoche als Aufenthaltsraum für die Maturanten benötigt wurde, die zwischen den Examina dort warteten. Es hätte in den unendlichen Gemäuern des Klosters zwar appetitlichere Warteräume gegeben, aber das Biologiekämmerchen lag im stillen Erker des zweiten Stocks, abgeschirmt vom restlichen Schullärm, was auch die knutschenden Pärchen das Jahr über zu schätzen wussten. Neben dem Biologiekämmerchen befand sich ein ebenfalls abgelegener Klassenraum, der sich wunderbar für die mündlichen Prüfungen eignete. Johannes’ Kopf war so voll vom gelernten Stoff, dass er die aufgeschlitzten, eingelegten und ausgestopften Tiere gar nicht wahrnahm. Der unterschwellige Spiritusduft jedoch roch vertraut und gab ihm das Gefühl von Doktor Opas Präsenz.
    Als ihn schließlich die Schulsekretärin zu seiner Prüfung abholte, merkte er, dass er kein bisschen nervös war. Denn während die gute Frau seinen Namen aufrief, dachte er keine Sekunde an die Prüfung, sondern nur daran, dass sie der Gemeindesekretärin von St.   Peter am Anger täuschend ähnlich sah, während sie ihn über den Rand ihres Klemmbretts anlugte.
    Im Prüfungszimmer hatte sich früher der Sommerspeisesaal der Mönche befunden, was man daran merkte, dass der Deckenstuck noch vom Kerzenschein der Abendessen angerußt war. An der Stirnseite des Raumes saß die Maturakommission an einem länglichen Tisch, der von einem grünen Tischtuch bedeckt war. Solche Maturakommissionen pflegten in der gesamten Alpenrepublik aus allen Klassenlehrern und einem externen Vorsitzenden zu bestehen, der in Johannes’ Fall der Direktor der nächstgelegenen größeren Schule war. Er sah zwar harmlos aus, rundlich und mit schneeweißem Bart, doch wie Johannes wusste, war er ein guter Freund Luftingers – weswegen er ihm, ohne zu zögern, einen niederträchtigen Charakter attestierte. Johannes ließ sich davon ebenso wenig beunruhigen wie von Luftingers finsterem Gesicht, vor dem er heute die Geschichtsprüfung ablegen würde. Seit Gernot

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