Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Johannes packte Petzi mit beiden Händen und setzte sich mit ihm auf die Bettkante, legte sich den Kopfpolster auf den Schoß und platzierte den Kater darauf.
»Braver Petzi, lieber Petzi«, wiederholte er einige Male und streichelte ihm den Kopf.
Petzi beschnupperte den Polster unter seinen Pfoten. Normalerweise durfte er auf Johannes’ Schoß sitzen, doch Johannes hatte bereits seine Anzugshose an.
»Bist ja ein guter Kater. Hast du die Maus als Glücksbringer gefangen für mich, gelt?«
Normalerweise schimpfte Johannes den Kater, wenn er Tiere erlegte – vor allem da Petzi so dick und langsam war, dass er in der Regel nur wehrlose junge oder gebrechliche Tiere erwischte. Er wusste jedoch, dass dies eine der letzten Mäuse sein würde, die er fing, da schon nächste Woche der Umzug ins katholische Studentenheim der Hauptstadt anstand, denn dann hatte es sich ausgemaust. Der Subprior hatte nicht nur Johannes dort untergebracht, sondern auch für den Kater eine Wohnerlaubnis erwirkt.
Johannes setzte den Kater auf den Boden, kontrollierte im Spiegel, ob ein Katzenhaar an ihm klebte, und packte zur Sicherheit noch die Fusselrolle in seine Ledertasche. Er seufzte, eigentlich hatte er sich vorgenommen, als erste Tat nach der vollbrachten Matura seinen Koffer für den Auszug zu packen, doch nun sah es so aus, dass er zuvor noch eine Maus begraben musste. Johannes rückte seinen Krawattenknoten zurecht und zupfte das Hemd unter dem Jackett hervor. Er war seit seinem Wachstumsschub vor Beginn der fünften Klasse kontinuierlich in die Höhe geschossen und zählte somit zu den größten Schülern des Gymnasiums. Ilse, die so überrascht über sein anhaltendes Wachstum gewesen war, dass sie glaubte, er würde gar nie mehr aufhören zu wachsen, hatte sich geweigert, ihm für nur eine einzige Prüfung einen Anzug zu kaufen, der womöglich in zwei Monaten nicht mehr passte. Stattdessen hatte sie ihn mit Alois’ altem Hochzeitsanzug zur Schneiderin geschickt, die ihr Menschenmöglichstes getan hatte, diesen an Ärmeln und Hosenbeinen hinabzulassen. Dennoch sah Johannes aus, als wollte er für ein Hochwasser gerüstet sein.
Als Johannes in die Küche kam, stand Ilse an der Abwasch und schrubbte so heftig eine Pfanne, dass ihr siebzehneinhalb Jahre alter Schwangerschaftsspeck, den sie wie alle St.-Petri-Frauen aus Stolz, Mutter zu sein, nie wegtrainiert hatte, im Takt des Schrubbens wippte. Johannes traute seinen Augen kaum; das gute Frühstücksgeschirr war aufgetischt, aus der einen Kanne dampfte Kaffee, in der anderen hingen Teebeutel. In der Mitte des Tisches stand ein Brotkörbchen mit frischen Semmeln, Wurst und Käse waren sogar zu kleinen Röllchen gewuzelt. Die Obstschale war randvoll, in einem Glaskrug trieb das Fruchtfleisch schäumend im frischen Orangensaft, und in einer Servierschüssel stand Eierspeise bereit, die, wie Johannes es mochte, nur aus Dotter, nicht aus Eiweiß zubereitet und sogar mit frischem Schnittlauch garniert war. Zögerlich nahm Johannes auf der Eckbank Platz und traute sich nicht, die Hand auf den Tisch zu legen. Ilse schrubbte, als ob sie nicht gemerkt hätte, dass ihr Sohn den Raum betreten hatte. Erst als die erste Lage der Pfannenbeschichtung im Waschbecken schwamm, wandte sie sich um.
»Hiazn iss halt, damit du a Kraft hast für dei, dei, dei Prüfung da.«
Es zu artikulieren, fiel Ilse Irrwein schwer, doch sie war mächtig stolz auf ihren Sohn. Auch Alois hatte seinen Arbeitskollegen angekündigt, am 1. Juni erst spätvormittags auf die Baustelle zu kommen, und so war Johannes äußerst verwundert, als sein Vater in Zivil die Küche betrat, weder mit Holzspänen übersät noch vom Sägemehl staubig, und ihn, obwohl er keine Besorgungen in der Stadt zu erledigen hatte, zur Schule fuhr.
Alois, der in den letzten Jahren einige Dachstühle im Tal errichtet hatte, kannte den Verlauf der Bergstraße auswendig und fuhr um etliches rasanter und schneller als die anderen St. Petrianer, die sie selten benutzten. Johannes’ zuliebe nahm er jedoch den Fuß vom Gas, fuhr die Kurven sauber aus und ließ die Motorbremse ihre Arbeit tun. Johannes kurbelte das Fenster hinab, um die Aussicht zu genießen. Alois hatte zwar am Vortag das Auto mit dem Gartenschlauch abgespritzt, der zentimeterdicke Sägespäne-Film aber, der sich über die Jahre an den Fenstern festgelegt hatte, war wasserfest. Johannes beobachtete die überhängenden Felsmauern bergseitig der Straße, über die im Frühjahr
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