Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Luftinger Johannes’ Klasse übernommen hatte, hatte sich ihre gegenseitige Feindschaft des Öfteren in verbalen Schlagabtauschen über die Interpretation des Lehrstoffes geäußert, bei dem abwechselnd der eine dem anderen unterlegen gewesen war. Johannes hatte nicht nur im Voraus gelernt, was zu einem Thema im Geschichtsbuch stand, sondern auch stets die Bibliothek durchforstet, um mehr zu wissen als der Rest der Klasse und nicht Gefahr zu laufen, vor Luftinger Schwäche zu zeigen. Luftinger wiederum hatte ihn mit Falkenaugen beobachtet, und sein Misstrauen war bald in offenen Hass umgeschlagen, da Gernot Luftinger es nicht ertragen konnte, gelegentlich von einem besserwisserischen Bergbauernbuben in die Schranken gewiesen zu werden.
Kurz bevor Johannes am Vorbereitungstisch Platz nahm, um die Fragestellung seiner ersten Prüfung, Latein, zu lesen, begegnete sein Blick dem Luftingers. Johannes ballte die Fäuste rund um die Bleistifte, die er mit sich trug. Er war gut vorbereitet, er wusste, dass er ihm seine Überlegenheit demonstrieren würde, dennoch war er irritiert, als Luftinger ein bösartiges Lächeln aufsetzte.
Nach der fünfzehnminütigen Vorbereitungszeit wechselte Johannes auf den freien Stuhl vis-à-vis der Maturakommission, nahm seine Notizen zur Hand und übersetzte eine Fabel des Phaedrus, die seine erste Prüfung darstellte. Die Übersetzung gelang ihm ohne Probleme, die Interpretationsfragen beantwortete er flüssig, und der Lateinlehrer nickte zufrieden.
Die Griechischprüfung eine Stunde später war, wie erwartet, die Bühne, auf der Johannes brillieren konnte. Die mündliche Matura der Alpenrepublik bestand zu jener Zeit aus zwei Fragen pro gewähltem Fach, von denen eine die sogenannte Spezialfrage war, deren Thema der Schüler selbst festlegte, und die andere aus dem Kernstoff entsprang. In Griechisch sprach Johannes in seinem Spezialgebiet über die Vorläufer der Geschichtsschreibung in den Mythen von Homer und Hesiod, als Kernstofffrage übersetzte er einen Teil der Odyssee, jene Stelle im 20. Gesang, wo Odysseus die Freier beobachtete und überlegte, sie sofort zu ermorden, sich dann jedoch zusammenriss und sich daran erinnerte, was er auf den Irrfahrten schon alles hatte erdulden müssen. Johannes übersetzte mit Hingabe, unterstrich seine Ausführung mit dezenten Gesten, saß gerade, schwitzte nicht – obwohl es drückend heiß war – und beendete seine Ausführung mit der Übersetzung des achtzehnten Verses: τέτλαθι δή, κραδίη· καὶ κύντερον ἄλλο ποτ’ ἔτλης.
»Sei stark, mein Herz, du hast einst bereits viel Schlimmeres ertragen.«
Johannes entging nicht, dass der Vorsitzende, sehr zu Luftingers Missfallen, anerkennend nickte und der Griechischlehrer sich zusammenriss, um nicht vor Freude in lautes Beifallsklatschen zu verfallen. Johannes bemühte sich, nicht allzu souverän zu lachen. Denn auch wenn er brilliert hatte, rechnete er damit, dass ihm der größte Auftritt während der Geschichtsprüfung bevorstand. Für seine Spezialfrage hatte er sich Herodot ausgesucht, den von ihm am meisten bewunderten Autor der Weltgeschichte. Er hatte die Historien zwanzig Mal gelesen, kannte das Buch halb auswendig und freute sich, gestärkt vom bisherigen Erfolg, Luftinger alt aussehen zu lassen.
»Herr Irrwein, erläutern Sie uns bitte die vorgegebene Passage, in der, wie Sie gelesen haben werden, Krösus vom Perserkönig Kyros besiegt worden ist und auf dem Scheiterhaufen drei Mal die Worte Solon ruft. Erklären Sie uns bitte, in welchem geschichtlichen Zusammenhang wir diese Passage lesen müssen und welche Strategien der Historiografie wir hier versammelt haben«, presste Luftinger aus seinen schmalen Lippen, die Johannes an einen Fisch erinnerten. Luftinger saß ihm gegenüber und hatte die Hände bewegungslos auf dem Tischtuch gefaltet. Die Ruhe, die er zu haben schien, irritierte den Maturanten. Er klammerte sich fester an sein Blatt und dachte an Herodot. Dieser war vor keiner Herausforderung zurückgewichen, sondern hatte im Vertrauen auf das Schicksal jeder Gefahr ins Auge geblickt. Johannes atmete tief ein und begann:
»Der Lyderkönig Kroisos herrschte über die Phryger, Myser, Mariandyner, Chalyber, Paphlagoner, Thraker, die thynischen wie die bithynischen, die Karer, Ionier, Dorer, Aioler und Pamphylier.« Johannes hatte sich für alle erwähnten Völker Eselsbrücken überlegt und beobachtete stolz, wie Luftinger Schwierigkeiten
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