Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Frau Trogkofel hatte zwar bemerkt, dass sie es mit dem widerwilligsten Ungeborenen St. Peters zu tun hatte. Aber diesen Triumph wollte sie Johannes Gerlitzen nicht gönnen.
»Da Herr Doktor kann a nix machn. Den brauchst net, Ilse, afoch nur atmen und pressn. Huch-huch«, redete sie Ilse zu.
Nach siebzehn Stunden fand Ilse ihre Sturheit wieder, nach achtzehn Stunden verfluchten beide Frauen Johannes Gerlitzen, nach neunzehn Stunden verfluchte Ilse das männliche Geschlecht, und nach zwanzig Stunden fasste sie neuen Mut. Kurz vor der zweiundzwanzigsten Stunde, irgendwo zwischen Ohnmacht und dem unbedingten Willen, Mutter zu werden, erinnerte sie sich an ihre Entscheidung, die sie vor vielen Jahren getroffen hatte. Sie hatte sich gegen ein Internat fernab von St. Peter entschieden und das ruhige Leben in ihrer Heimat gewählt. Sie hatte beschlossen, ihre große Liebe Alois zu heiraten, in St. Peter einem gemütlichen Halbtagsberuf nachzugehen, hin und wieder in den umliegenden Sporzer Alpen wandern zu gehen, für die Dorffeste Kuchen zu backen, im Kirchenchor zu singen, mit ihren Freunden von Kindertagen an beisammen zu bleiben, und vor allem: eigene Kinder zu bekommen und jene Bilderbuchfamilie zu haben, die sie sich als kleines Mädchen ersehnt hatte, als sie allein mit ihrer Mutter im großen Bett geschlafen hatte. Mit der letzten Kraft, die sie aufbringen konnte, und unter den zitternden Händen der Hebamme, die sich bereits Sorgen machte, es gäbe ernsthafte Komplikationen, brachte Ilse Elisabeth Irrwein nach dreiundzwanzig Stunden und elf Minuten, kurz vor zehn Uhr abends, einen Sohn zur Welt. Auf seiner Holzbank registrierte Alois anhand der ausbleibenden Pressschreie seiner Ehefrau und den einsetzenden Brüllern eines Neugeborenen, dass er Vater geworden war. Die Hebamme hätte gar nicht erst das Fenster öffnen und herunterrufen müssen, Alois hatte die frohe Botschaft bereits vernommen. Trotzdem schrie sie:
»Es is a Bua, de Irrweins ham an Buam«, als wollte sie, dass ganz St. Peter diese Kunde aus ihrem Mund hörte. St. Peter am Anger, aber vor allem: Doktor Johannes Gerlitzen.
Im ersten Moment seines Vaterglücks dachte Alois Irrwein keine Sekunde mehr an seinen Schwiegervater, stattdessen wurde er sich eines Problems bewusst: Er war sternhagelvoll. Kaum hievte er sich von der Holzbank, um sein Kind zu begutachten, warf es ihn auf den Schotter. Doch Alois war ein harter Knabe, also brachte er sich, Hinterteil voran und mit gestreckten Knien, wieder auf die Beine. Er spuckte vier Kieselsteine aus, tastete, ob seine Zähne noch vollständig waren, und kam zu dem Schluss, dass er vielleicht etwas hätte essen sollen, anstatt das Warten mit Schnaps zu überbrücken. Zwischendurch war er zweimal eingeschlafen, auf dieser Holzbank hatte er schon ein paarmal übernachtet, wenn er betrunken aus dem Wirtshaus nach Hause gekommen war. Nun wackelte er auf die Haustür zu und verzichtete sicherheitshalber darauf, sich die vom Kieselstaub bedeckte Hose abzuklopfen – die Welt drehte sich zu schnell, wenn er die Augen Richtung Boden wandte. Stattdessen ließ er sich mit der aufschwingenden Tür in den Gang fallen, stützte sich am Kleiderständer ab, den er im Zuge der Kindersicherung mit zwei Winkeln und Keramikkleber in der Wand verankert hatte, und tastete sich von dort zum Treppengeländer vor, an dem er sich mit vorsichtigen Schritten hochhangelte. Oben angekommen, pochte Alois’ Herz. Vor Alkohol und Freude taumelnd stürzte er los, ohne zu merken, dass er die Schlafzimmertür mit der Dachbodentür verwechselte und es nicht mehr schaffte auszuweichen, bevor die ausfahrbare Leiter herunterklappte. Der Leiterfuß erwischte seine rechte Wange. Genauso wenig wie ein Holzbrett schreit, wenn ihm mit dem Hammer eine Delle eingekerbt wird, gab der Zimmermann Alois Laut, als ihm die Holzleiter das Jochbein brach. Alois taumelte rückwärts in den Flur, stieß mit dem Hinterkopf an die Wand, das seit zehn Jahren dort hängende Hochzeitsfoto fiel vom Nagel, das Glas zerbrach. Seine rechte Gesichtshälfte schwoll an wie frischer Germteig, in der Kieferhöhle blutete er, durch die Nasenlöcher floss das Blut ab, und, was er erst am folgenden Tag bemerken würde: Seine Wange war unnatürlich eingefallen. Alois ließ sich niedersinken, lehnte sich an das Geländer der Treppe und legte den Kopf in den Nacken. Dank seiner Prügelerfahrung wusste er, dass es am besten war, das Blut eintrocknen zu lassen, also
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