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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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Johannes Gerlitzen in den Fünfzigern das Haus baute, hatte es noch kein Babyfon gegeben. Damals war es selbstverständlich gewesen, die Wände zwischen Kinderzimmer und Schlafzimmer der Eltern mit dünnen, geräuschdurchlässigen Ziegeln aufzuziehen. Ilse und Alois Irrwein wünschten in den ersten Nächten ihres Elterndaseins, sie würden in einem Neubau wohnen mit isolierten, schalldichten Wänden, wo ein Babyfon unabdinglich wäre, aber auch ausgeschaltet werden könnte. Ilse wälzte sich von der Seite auf den Bauch und drückte den Polster an ihre Ohren. Blind trat sie Richtung Alois, bis sie seine Kniekehle erwischte und er sich laut stöhnend wegdrehte.
    »Bist deppert?«, murmelte Alois in seinen Zehntagebart, ohne die Augen aufzumachen.
    »Herst Loisl, geh du amoi. I bin so fertig«, schnaubte Ilse in den Polster.
    »Du bist de Muatter«, grunzte er.
    »Geh schleich di endli rüber, der Bua dastickt jo nu vor Plärrn.«
    Ilse verpasste ihm einen Tritt auf die Achillesferse. Alois grummelte, rollte sich herum, versuchte, den Hieben zu entkommen, aber als er merkte, dass seine Frau tretend eingeschlafen war, wälzte er sich aus dem Bett. Vor Schlaftrunkenheit vergaß er, in seine Schlapfen zu schlüpfen, und tapste barfuß ins Kinderzimmer. In der Wiege wand sich der Kleine, als wollte er aus seiner Haut robben. Alois schob einen Stuhl heran und begann, den Wiegenkorb zu schaukeln. Das war dem Wurm lieber, als herumgetragen zu werden. Alois stützte seinen Ellbogen auf dem Knie ab und legte die linke Gesichtshälfte in seine Handfläche. Sein Kopf pochte, als zerplatzte er. Alois’ rechte Kopfhälfte steckte in einem dicken Verband. Sein Jochbeinbruch hatte nach Klein-Johannes’ Geburt mit einer Metallplatte fixiert werden müssen und wurde für den Heilungsprozess mit einem Schonverband ruhiggestellt. Das Schlimmste an der Verletzung war für Alois jedoch nicht der Schmerz, sondern der Krankenstand. Nicht einmal nachdem er sich bei einer Schlägerei zwei Rippen gebrochen hatte, hatte er so lange zu Hause bleiben müssen. Er konnte auf keiner Baustelle arbeiten, und in seiner eigenen Werkstatt hatten ihm die Gesellen den Zutritt verboten. Selbst das Wirtshaus bot keine Zuflucht, denn seit seinem alkoholgetränkten Auftritt an Ilses Wochenbett drohte sie ihm mit sofortiger Scheidung, rührte er in den nächsten Wochen nur einen Tropfen an. Und als wäre dies alles nicht schon schlimm genug, tönte das Plärren des Säuglings in jeder Ecke des Hauses. Natürlich platzte Alois vor Stolz, Vater eines gesunden Sohnes zu sein, doch nicht einmal fernsehen konnte er, sodass er sich jede Stunde ärgerte, im Krankenhaus auf einen ambulanten Eingriff bestanden zu haben. Hätte er sich nur einweisen lassen, fluchte er. Alois schaukelte und schaukelte, aber der Kleine wurde nicht ruhig. Er ließ den Blick durchs Kinderzimmer streifen. Fast alle Möbel hatte er selbst gezimmert. Alois hatte die Wartezeit, bis es endlich geklappt hatte, damit überbrückt, Holzarbeiten für sein Kind zu verfertigen. Er hatte ihm sogar ein abenteuerliches Klettergerüst im Garten gebaut, und allein die Wiege, in der sich der Kleine so unwohl zu fühlen schien, war eine Arbeit von fast zwei Jahren gewesen. Langsam beruhigte sich Johannes A. Irrwein. Aus dem energischen Plärren wurde ein angestrengtes Japsen, das in einem Keuchen auslief und schließlich in seufzendem Atmen eines Säuglings mündete. Alois stand auf und betrachtete seinen Sohn. Der Kleine war wunderschön, dachte er. Alois schob seine Hand unter das Köpfchen seines Buben. Erstaunlich klein war er, stellte der junge Vater fest. Das Köpfchen passte zweimal in seine Handfläche, und es blieb immer noch Platz. Alois’ Daumen streichelte über die weißblonden Löckchen, die so hell waren, dass sie im Mondlicht leuchteten. Der Kleine stöhnte, und Alois zog die Hand zurück, um ihn nicht zu wecken.
    »Seltsam«, flüsterte er in die Dunkelheit. Obwohl dies unmöglich war, meinte er eine frappierende Ähnlichkeit zwischen dem kleinen und dem großen Johannes zu erkennen. Behutsam schloss Alois die Kinderzimmertür und ging ins Bad. Auch wenn er das bisher aus Stolz und Eitelkeit verweigert hatte, meinte er, es wäre an der Zeit, die Schmerztabletten aufzumachen, die man ihm im Krankenhaus mitgegeben hatte.

[Pilger und Reliquien, Notizbuch I]
    [3.4.] Drei Generationen nachdem die Mönche den ungeordneten Haufen der Bergbarbaren zu einem Dorf geordnet hatten, fand der Friede ein

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