Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
waren. Da die Schulputzfrauen im Gegensatz zu Mitzi Ammermann ihre Brillen bei der Arbeit trugen, war das Glas stets perfekt poliert, und Johannes stand gelegentlich die ganze Pause lang davor, um zu imaginieren, was man mit diesen Dingen wohl machen könnte. Der Chemieraum war ähnlich ausgestattet, doch die dort ausgestellten Dinge waren abstrakter und der Forscherfantasie weniger zugänglich: Reagenzgläser, Drähte, Pulver, Flüssigkeiten, Pipetten und Zangen. Das Biologiekammerl wiederum mied Johannes. Allseits war bekannt, dass jüngere Schüler kopfüber in den Pissoirs geduscht wurden, wenn sie dort die älteren Schüler beim Grabschen, Fummeln, Schmusen – was sie sich miteinander aufführen nannten – störten. Das Kammerl lag nämlich im toten Winkel der Gangaufsicht und war zum Schutz der Präparate nur mit einem kleinen Fenster ausgestattet, was Romantik aufkommen ließ, wenn man die ausgestopften Tiere rundum ignorieren konnte. Aber genau diese Tiere lösten mehr Unbehagen bei Johannes aus als die Oberarme der hormontollen älteren Schüler.
[Die andere Art, zu glauben, Notizbuch II]
[5.8.] Nachdem die fahrenden Händler das Dorf von allen Landkarten getilgt hatten, war es lange Zeit still am Angerberg, wie man es dort gewohnt war und auch am liebsten mochte – was heute nicht anders ist, wie ich selbst gesehen habe. [5.9.] In dem Pfarrhof, den die Bergbewohner für ihre geistlichen Führer aus dem Lenker Kloster errichtet hatten, lebten das Jahr hindurch fünf der Ordensmänner, doch nach einigen Jahrzehnten verschwanden plötzlich drei, und die beiden verbliebenen verhielten sich merkwürdig: Der eine zog sich in eine Höhle zurück, der andere lief mondsüchtig durch das Dorf und verlor binnen einer Woche sein Haupthaar. Das sagen zumindest Aufzeichnungen zu jener Zeit. Weiters wird lediglich berichtet, daß die Dorfbewohner mit den Achseln gezuckt und vermutet hätten, bei den Mönchen sei eine Klosterkrankheit ausgebrochen, vor der man als normaler Mensch keine Angst zu haben brauche. [6.0.] Schließlich kam ein fremder Priester zu den Bergbarbaren, der arm wie ein Bettler aussah und dennoch freudig verkündete, die einzige Wahrheit über den Glauben zu kennen. Der Fremde rief die Dorfbewohner auf, sich von der Kirche in Rom abzuwenden und seiner Lehre zu folgen. Er führte aus, daß in seinem Glauben alle gleichermaßen Gott nahestünden, daß die Priester den Gläubigen ebenbürtig seien und daher auch Frauen haben dürften. Zudem sei es eine Lüge, daß der Mensch sich durch Ablaßzettel freikaufen könne, und überhaupt seien all die kirchlichen Traditionen Humbug, denn allein die Schrift sei die Grundlage des christlichen Glaubens. [6.1.] So also sprach er zu den St. Petrianern, diese jedoch schüttelten die Köpfe und gingen zurück zu ihrem Tagwerk, so daß der Priester, von dem sie dachten, er würde an derselben seltsamen Mönchskrankheit leiden, die die übrigen verrückt gemacht hatte, allein auf dem Dorfplatz zurückblieb. [6.2.] Ich vermute, ihr Desinteresse an dieser neuen Glaubensform lag in ihrer hedonistischen Natur – denn sie sind auch heutzutage noch freudig bereit, ihre Sünden durch Ablaß zu begleichen, um dann neue begehen zu können. Bei den Bergbarbaren muß es stets vergnüglich zugehen, sogar in der Religion.
Eine Box voller Krankheiten
Im Herbst 2004, als Johannes in die dritte Klasse Gymnasium kam, begann der Ernst des Lebens. Während die ersten zwei Klassen den langsamen Einstieg geboten hatten, wurden nun die Grundlagen der Welt unterrichtet. Mathematikaufgaben erstreckten sich über Seiten, und sogar der Felgaufschwung an den Reckstangen wurde benotet. In Chemie-Plus wurden nicht mehr bloß rote und blaue Säfte zu rosa Säften, die kleine Blubberblasen von sich gaben – sondern die Blubberblasen wechselten plötzlich ihre Farben, lösten Kettenreaktionen aus, und anstatt zu platzen, sahen sie aus wie der Atem einer zum Leben erweckten Flüssigkeit. Johannes waren diese neuen Entwicklungen im Reagenzglas nicht geheuer. Er versuchte, aufgeschlossen zu bleiben, doch in seiner Weltanschauung hatte unbelebte Materie unbelebt zu bleiben und sich nicht wie ein Lebewesen zu verhalten. Auch Physik vertiefend war nicht besser. Plötzlich wurden alle bisher gelernten Grundsätze relativiert, und man sprach nur von Dingen, die noch nie bewiesen worden waren, aber da sein mussten, weil man nicht wusste, wie die Welt sonst funktionieren sollte.
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