Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Locken verfing. Johannes geriet in Panik und lief schreiend durch die Wohnung. Er erinnerte sich an eine Geschichte aus Doktor Opas Ordination: Frau Millstädt hatte einst auf der Küchenbank geschlafen, wo sich eine Fliege in ihrem Ohrenschmalz verfangen hatte. Daraufhin war sie fünf Tage lang mit einem nervenzerstörenden Summen im Ohr herumgelaufen, und erst Doktor Opa hatte mit einer Spezialzange die in ihrem Ohrenschmalz ertrunkene Fliege, deren langer, lauter Todeskampf Frau Millstädt fast den Verstand gekostet hätte, herausgeholt. Johannes fürchtete schon, ihn würde ein ähnliches Schicksal ereilen, doch dann befreite sich die Fliege aus seinem Haar, und er wartete vor Schock ein paar Tage, bis er abermals auf die Jagd ging.
Schließlich aber war er erfolgreich und sperrte sieben Fliegen in seinen selbst gebastelten Käfig, und innerhalb kürzester Zeit waren sie zu acht, dann zu zwölft, und bald hatte Johannes Schwierigkeiten, sie zu zählen. Aber dafür waren sie spannende Beobachtungsobjekte, und sein Projektjournal füllte sich. Er freute sich auf Frau Professor Parts lobende Worte, wenn er ihr seine Ergebnisse präsentieren würde.
Da ihn das energische, niemals verstummende Summen nichtsdestotrotz an die Ohrenschmalz-Geschichte erinnerte, brachte er die Zucht nicht in seinem Zimmer, sondern im Garten unter. Seine Mutter hatte sich in einer ihrer Haus-Umgestaltungs-Launen vor drei Jahren einen Grillplatz gewünscht, ihn jedoch, sobald er vollendet war, kaum benutzt. Der Grill war eigentlich ein gemauerter Freiluftofen mit überdachtem Rost. Johannes stellte den Fliegenkäfig dort ab, sodass die Fliegen genug frische Luft hatten und vor Wind und Wetter geschützt waren – bis Ilse eines Tages den Grill inspizierte, da sie an der Reihe war, das wöchentliche Damentreffen abzuhalten, eine Splittergruppe der Mütterrunde für all jene Mütter, die nicht über ihre Kinder reden wollten.
»Jessasmaria!«, schrie sie, als sie dort, wo normalerweise die Wendezange und der Schürhaken lagen, die Fliegenkolonie erblickte. »Johannes schleich di sofort her und tu de Krankheitskistn weg!«, kreischte sie und lief ins Haus.
Derweilen benutzte Johannes den Vorderausgang. Und während Ilse schimpfend, brüllend, fluchend nach ihm suchte, lief Johannes ums Haus herum in den Garten, schnappte sich die Fliegenkolonie und versteckte sie.
Als Alois abends nach Hause kam, beförderte Ilse ihren Mann zum Terminator und drohte, erst wieder Schweinsbraten zu kochen, wenn dieser Brutkasten für Krankheiten beseitigt wäre. Anderthalb Wochen konnte Johannes seine Brut durch häufiges Wechseln der Verstecke vor Ilses Hygieneansprüchen bewahren. Doch als es Zeit war, die Pfingstrosen zu schneiden und Ilse ihre Blumenschere verlegt hatte, fand sie auf der Suche nach der Ersatzschere abermals Johannes’ Biologieprojekt. Wieder schreiend, da sich die Fliegen ordentlich vermehrt hatten und wild durcheinandersummten, als schmiedeten sie einen Ausbruchsplan, versuchte sie, Alois zu Hilfe zu holen. Es war später Vormittag, niemand wusste, auf welcher Baustelle Alois gerade zimmerte, Handys waren 2005 in St. Peter am Anger nur bei der jüngeren Generation in seltener Verwendung, und so beschloss Ilse, selbst zu handeln. Sie streifte sich zwei Paar Abwaschhandschuhe unter den Gartenhandschuhen über, zog sich den Wintermantel an, umhüllte ihr Gesicht mit einem Tuch und stülpte sich eine Skihaube über die Ohren, denn auch Ilse hatte die Geschichte von Frau Millstädts Ohrenschmalz gehört, allerdings in der Version der Mütterrunde, die noch weitaus dramatischer ausgeschmückt gewesen war als jene, die Johannes kannte. Mit vier Dosen Insektenspray bewaffnet, zog sie los, warf die Fliegenzucht in die große Mülltonne und sprühte, bis das Gift leer war und kein Summer mehr aus der Tonne drang. Zufrieden ließ sie die Badewanne ein und schrubbte sich so intensiv sauber, dass ein breiter Rand ihrer Hautreste am Badewannenrand zurückblieb.
Es dauerte eine Weile, bis Johannes’ Reaktion folgte. Ilse und Alois hatten schon gehofft, er hätte ihr Vorgehen akzeptiert und würde nun ein paar Tage nicht mit ihnen reden, bis alles vergessen und vergeben wäre, doch Johannes A. Irrwein zog in den Krieg. Bisher war es ihm egal gewesen, von den anderen Kindern gehänselt zu werden oder das Opfer diverser Streiche zu sein, aber dass ihn seine Mitschüler vor Frau Professor Part bloßstellten, als er erklärte, er könne sein Projekt
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