Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
anging. Alle anderen Erwachsenen, die mit dem jungen Irrwein zu tun hatten, schwärmten von ihm.
Die Lehrer kannten lediglich Gerüchte von da oben , wie man in Lenk zu sagen pflegte, wenn man über die Berge sprach. Hinter jenen Erzählungen, die im Lehrerzimmer der Benediktinerschule über Johannes’ Heimatdorf ausgetauscht wurden, steckte jedoch nur manchmal ein wahrer Kern. Es war zum Beispiel erlogen, dass die St. Petrianer Rattengift ausgelegt hatten, als es Mode geworden war, die Stadthunde auf den grünen idyllischen Wiesen des Angerbergs Gassi zu führen, nachdem der Lenker Gemeinderat die Gacki-Sacki-Pflicht erlassen hatte und die Lenker Hundebesitzer sich nicht daran gewöhnen wollten, die Hinterlassenschaften des eigenen Vierbeiners mit einem Plastiksackerl aufzuheben. Was den Lenker Hundeausführ-Tourismus betraf, hatte es sich in Wahrheit so abgespielt, dass der alte Herr Rettenstein, der mittlerweile pensioniert war und viel Zeit für seine persönlichen Feldzüge hatte, mit seiner Schrotflinte den Spaziergängern hinterhergelaufen war. Zu viel Hundekot auf der Futterwiese verschlechterte nämlich die Milchqualität, und bis in tiefere Lagen wurden beinah alle Wiesen, die nicht bewaldet waren, von den St. Petrianern für die Heuwirtschaft bestellt. Opa Rettenstein hatte infolge der lebenslangen Stallarbeit eine wehe Hüfte und war keinem der Spaziergänger je auf Schussweite nahegekommen, aber nach drei bis vier Warnschüssen hatte der Hundeausführ-Tourismus ein rasches Ende gefunden.
Dass Johannes trotz dieser Herkunft nicht nur fleißig und klug war, sondern vor allem Hochsprache reden konnte, wurde bei mehreren Konferenzen und Pausengesprächen lobend hervorgehoben. Nur die Eltern des Buben, auf die alle neugierig waren, lernte man nie kennen. Ilse und Alois kamen keiner Einladung zu Elternabenden oder Abschlusspräsentationen nach und traten auch dem Elternverein nicht bei, was mit Argwohn aufgenommen wurde, da die Mitgliedschaft nur auf dem Papier freiwillig war. Alois war zu sehr ein Mann des praktischen Handwerks, um den Sinn eines Gymnasiums zu erfassen. Johannes versuchte zwar unzählige Stunden bei der Abendjause, seinem Vater zu erklären, warum es gut war, Latein zu beherrschen, auch wenn man nicht Pfarrer werden wollte – doch je mehr er erzählte, desto unverständlicher wurde der Sachverhalt für Alois. Seine Anteilnahme an der Ausbildung seines Sohnes beschränkte sich schließlich darauf, dass er Johannes gelegentlich über die Schulter schaute, wenn dieser geometrische Zeichnungen anfertigen oder Winkel berechnen musste, wie er es selbst tat, wenn er seinem Zimmermannshandwerk nachging. Ilse hatte schnell bemerkt, dass vieles von dem, was Johannes am Gymnasium so wichtig fand, den Worten von Johannes Gerlitzen entsprach, die dieser schon Ilse gegenüber geäußert hatte, als sie in Johannes’ Alter gewesen war. Schmerzhaft für Ilse war, dass Johannes mit seiner Schulwahl zugleich beschlossen hatte, später einmal weit weg zu studieren und, wie sie ihn einschätzte, dort wohnen zu bleiben. Johannes war ihr einziges Kind. Auch wenn er seine Eigenheiten hatte, der Gedanke, ihn zu verlieren, war für sie unerträglich.
Auf der Kirchenstiege sprach man bald nicht mehr darüber, dass ein St. Petrianer das Gymnasium besuchte, und Johannes wurde auch nicht gefragt, ob er am Krippenspiel der Dorfkinder mitwirken oder beim Frühlingsfest ministrieren wollte. Hätten sie ihn gefragt, hätte er ohnehin abgelehnt, denn zum einen besuchte Johannes die Gottesdienste im Benediktinerkloster und ministrierte Pater Tobias, wann immer dieser die Messe las, zum anderen war er seit der ersten Schulwoche sehr beschäftigt. Zusätzlich zum umfangreichen Stundenplan des Gymnasiums hatte Johannes im Gedenken an Doktor Opa alle naturwissenschaftlichen Freifächer belegt, die er im Stundenplan hatte unterbringen können, und beinah Tränen vergossen, dass sich Chemie-Plus mit dem Astronomie-Freifach überschnitt. Schon im zweiten Semester kam er später aus der Schule als Alois von der Arbeit. Der kleine Postbus verkehrte drei Mal täglich zwischen St. Peter am Anger und Lenk. Auf der Sechs-Uhr-dreißig-Fahrt brachte er die älteren Schulkinder ins Tal, die etwas außerhalb von Lenk die Hauptschule besuchten. Nur Johannes und gelegentlich ein paar führerscheinlose ältere Frauen, die von der Dorfärztin zum Röntgen oder zu einem Lenker Knochenspezialisten geschickt wurden, fuhren bis zur
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