Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Johannes hielt es für unsinnig, dass eine Theorie nur deshalb wahr war, weil nie etwas anderes festgestellt worden war. Das erinnerte ihn frappierend an die St. Petrianer, die ihre Weltsicht ebenfalls damit legitimierten, dass es ja immer schon so gewesen und nie etwas Entgegengesetztes passiert sei. In die Zwickmühle brachte ihn jedoch der Biologie-Unterricht. Johannes’ Lieblingslehrerin Frau Part war eine formvollendete Dame, die für die Biologie brannte. Sie war zwischen all den Mönchen eine der wenigen Personen, die Kleider in kräftigen Farben trug. Ihr wahres Alter kannte niemand, nur an der Art, wie sie über die Vergangenheit sprach, ahnte man, dass sie bald in Pension gehen würde. Was Johannes an Frau Part zuerst fasziniert hatte, waren ihre Lesebrillen, die sie auf die gleiche bedacht-vorsichtige Art mit beiden Händen aufzusetzen pflegte, wie es auch Doktor Opa getan hatte. Doktor Opas Brillen waren natürlich schwarz oder dezent dunkelgrün gewesen, während Frau Professor Part Lesebrillen in allen erdenklichen Mustern von Tigerfell bis dottergelb besaß und diese täglich wechselte. Ähnlich wie Doktor Opa sprach sie ruhig und wohlartikuliert, und sogar wenn sie über Ausscheidungsorgane erzählte, hingen die Schüler an ihren Lippen. Johannes überlegte oft, ob sich sein Großvater in sie verliebt hätte. Eine Leidenschaft verband die beiden nämlich besonders: die Liebe zum Praktischen. Professor Part erzählte gern davon, wie sie in ihrer Studentenwohnung Orchideen auf Baumstämmen gezüchtet oder in ihrem Küchenschrank ausgestopfte und eingelegte Präparate aufbewahrt hatte. Stand sie in ihrem edlen Kostüm vor der Klasse, bezweifelten das viele Schüler, doch als sie in der dritten Stufe im zweiten Semester die Aufgabe stellte, alle Schüler sollten ein biologisches Projekt beginnen, war man sich beim Blick auf ihre Vorschlagsliste sicher, dass Professor Part noch viel exotischere Dinge in ihrer Wohnung hochgezogen oder im Küchenschrank versteckt hatte als tropische Pflanzen. Sie schlug vor, Frösche zu sezieren, Schleimproben von Schnecken zu untersuchen, Selbstversuche mit Insekten durchzuführen und ekelhafte Tiere zu beobachten. Johannes schluckte.
»Mama, ich brauch ein Haustier für ein wissenschaftliches Projekt in Biologie.«
Um keines aufschneiden zu müssen, dachte er, sprach es aber nicht aus und wünschte wie so oft, Schlappi wäre noch am Leben. Johannes saß am Küchentisch und starrte die Rinde seines Abendjausenbrotes an. Ilse hatte ihm verboten aufzustehen, bevor er alles aufgegessen hatte. Sie selbst stand bereits an der Abwasch, um rechtzeitig vor der Fernsehsendung Seitenblicke fertig zu werden. Als sie jedoch hörte, was Johannes sagte, ließ sie den Teller in das volle Becken fallen und drehte sich um. Das Wasser tropfte von ihren orangefarbenen Gummihandschuhen auf den Boden.
»Bist hiazn narrisch wordn? Mir is jo wurscht, wos du in deiner Schul tust, owa i tu ma sicha ka Hausviech hoam.«
Ilse stemmte die Hände in die Hüften, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. Ihr T-Shirt wurde nass, doch das schien sie nicht zu stören.
»Soll ich einen Fünfer kriegen, nur weil ihr mir nicht erlaubt zu lernen?«
»Fang net scho wieda damit an! Wennst unbedingt Hausviecha untersuchn wüllst, wir ham g’nug Hausfliegen.«
Wortlos stand Johannes auf. Bereits während er die Stiegen hochschritt, breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, denn die Idee seiner Mutter war gar nicht schlecht.
In der Mittagspause des nächsten Schultages nahm Johannes den 2er-Bus und fuhr zum Haustierfachmarkt, um eine Futterschaukel zu kaufen. Holz und Werkzeug waren bei den Irrweins überall zu finden, und so dauerte es nicht lange, bis Johannes einen quaderförmigen Holzrahmen genagelt und diesen mit feinster Gaze bespannt hatte. Er legte den Boden mit Rasenschnitt aus, stellte einen mit Wasser gefüllten Untersetzer hinein und schmierte ein Adlitzbeerenmarmeladebrot, das er, nachdem er den Käfig vollendet hatte, über die an der Querseite angebrachte Futterschaukel hineinrutschen ließ, um auszuprobieren, ob diese auch tatsächlich funktionierte. Glücklich stellte er fest, dass man Dinge hineingleiten lassen konnte, ohne dass von drinnen etwas entkommen würde. Schwieriger gestaltete sich jedoch die Jagd nach den zukünftigen Insassen. Bei seinem ersten Versuch verschreckte Johannes die anvisierte Fliege dermaßen, dass sie hektisch aufstob und sich in seinen dichten
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