Blau wie Schokolade
fortzuführen. Dann gab es Andy, der in seine Mutter verliebt war und von mir bemuttert werden wollte. Als ich seine Socken nicht auf eine bestimmte Weise zusammenlegen wollte, verließ er mich.«
Ich schaute Emmaline an. »Du verstehst, was ich meine.«
»Nein, tue ich nicht«, sagte sie. »Da ist noch mehr. Sehr viel mehr. Erzähl es mir!«
»Nein. Nein, das ist alles.« Ich verschränkte die Arme. Schluss damit jetzt.
»Doch. Du bist halb wahnsinnig vor Wut. Ich will, dass du gesund wirst. Erzähl mir alles!«
»Ich bin gesund.«
»Nein, bist du nicht, Jeanne. Du bist wund. Du hast Schmerzen.« Sie beugte sich zu mir vor, nahm meine Hände in ihre und senkte die Stimme. »Ich will dir helfen. Ich will deine Wut. Ich will, dass du sie loswirst. Erzähl weiter, Jeanne!«
Ich dachte nach. Warum nicht, zum Kuckuck? »Ich bin so sauer. Ich hasse mich.«
»Ich weiß. Schlag den Hass heraus, werd nicht rührselig, werd nicht schwach! Schlag den glühenden Hass heraus!«
Ich weiß nicht, warum, aber ich spürte, dass mir Tränen in die Augen traten. »Na gut, wenn du also wirklich schlimme, glühende Wut vertragen kannst, dann gebe ich dir die Wut über den Tod meiner Mutter. Sie war meine einzige Freundin, und jetzt habe ich niemanden mehr außer meinem Bruder, den ich nur selten sehe, weil ich seinen Kindern nicht in die Augen sehen kann. Vielleicht gebe ich dir den Zorn, den ich spürte, als ich zusehen musste, wie meine Mutter bei lebendigem Leibe vom Krebs zerfressen wurde. Wieso konnte der Krebs nicht den Körper eines Verbrechers oder eines gemeinen Menschen befallen? Warum gerade sie? Und warum dürfen so viele Menschen, die nichts anderes tun, als die Erde mit ihrem Gift, ihrem Hass und ihren Perversionen zu verschmutzen, weiterleben, aber sie nicht?«
»Lass es heraus, Jeanne! Alles. Da ist noch mehr, ich spüre es.«
Ich versuchte, Emmaline meine Hände zu entziehen, aber sie ließ es nicht zu.
O ja, da war noch viel mehr, und ich spürte, dass mich dieser Zorn spaltete wie eine Kettensäge, kreischend und erbarmungslos.
»Na gut«, versuchte ich es mit unbekümmerter Stimme, doch schnell erstickte sie in einem Schluchzen. »Dann gab es Johnny Stewart. Als wir uns kennenlernten, war ich auf der Hochschule, und er studierte Medizin. Wir waren fünfundzwanzig.« Ich begann zu zittern. Ich musste doch längst darüber hinweg sein, über zwölf Jahre danach!
»Ich spüre deine Angst, Jeanne. Jetzt kommt das Schlimmste. Das Negative strahlt nach außen. Sei kein Schaf! Lass es heraus!«
»Johnny sang immer gerne.« Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Mein gebrochenes Herz tat so weh. »Wir sangen immer zusammen. Er spielte Gitarre, ich Geige. Irgendwann waren wir uns einig, dass wir heiraten, auf dem Land leben und eine Farm und fünf Kinder haben wollten.« Ich entwand Emmaline meine Hände, stand auf und schlug mit beiden Fäusten gegen den Sandsack, ohne meine Tränen fortzuwischen. »Johnny wollte Arzt werden, ich wollte zu Hause bei den Kindern bleiben. Im Sommer wollten wir zelten gehen, ich wollte mich als freiwillige Helferin in der Schule melden, mich um die Küche, um die Hühner und Pferde kümmern. Sonntags würden wir zur Kirche gehen, und wir hätten jede Menge Freunde. Hab ich schon die fünf Kinder erwähnt? Wir hatten uns sogar schon Namen ausgesucht.«
»Schlag es heraus, Jeanne! Reiß es heraus und verarbeite es. Sei stark genug, es zu verarbeiten.« Emmaline gab dem Sandsack noch einen Schubs. »Sprich darüber! Lass es nach draußen, raus aus deinem Herzen!«
»Es wird immer in meinem Herzen bleiben«, sagte ich und bearbeitete den Sack mit den Fäusten. Mein Körper zitterte, wie ein Blatt, das man am Stengel in einen tropischen Sturm hielt.
»Erzähl es mir!«
»Tja, dann wurde ich schwanger. Ich war fünfundzwanzig, im letzten Jahr an der Uni.« Ich lächelte. Dann gefror mein Lächeln in meinem Gesicht. Salzige Tränen rannen mir in den Mund. »Wir hatten vor, nach dem Abschluss zu heiraten und Kinder zu bekommen. Johnny war so glücklich über die Schwangerschaft, und ich auch, dass wir beide weinten. Johnny legte immer die Hand auf meinen Bauch und sprach mit dem Baby.
Schon bevor wir durch den Ultraschall erfuhren, dass es ein Mädchen würde, sagte Johnny immer zu dem Baby, er würde
sie
lieben, ihre Mutter würde
sie
lieben. Dann wieder sprach er in meinen Bauch hinein und erzählte dem Baby, dass er
ihn
liebe, dass seine Mutter
ihn
liebe.«
Ich erschauderte
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