Blau wie Schokolade
der Kleine. »Dann lassen wir Sie weiterschlafen.«
Ich bedankte mich. Einer der Männer richtete mich auf, der andere hielt mir das Glas an den Mund. Ich trank es in einem Zug leer.
»Super«, sagte ich zu ihnen. »Is’ schon viel leiser, wo’s nich’ mehr so heiß is’. Danke.«
»Gern geschehen«, sagte der Kleine. »Wir haben es kälter gemacht und die Lautstärke runtergestellt.«
»Ja«, sagte der Große. »Genau wie es Ihnen zusagt. Jetzt legen Sie sich wieder schön hin und entspannen sich, denn jetzt ist es schön kühl und leise hier.«
Ich spürte, wie sie mich aufs Bett sinken ließen und die Decke glätteten.
»Warum haben Sie mich geweckt?«, wollte ich wissen.
»Wir wollten uns nur vergewissern, dass Sie noch unter den Lebenden sind«, sagte der Große. »Es ist uns wichtig, dass keiner unserer Gäste auf unserem Grund und Boden von dieser Welt in die nächste gleitet.«
Gute Idee.
Selbst mit meinem dicken Kater sah ich, wie mitleidvoll die Männer mich betrachteten.
Ich hasse Mitleid, doch mir ging es zu schlecht, um mich aufzuregen. Außerdem hatten mir die beiden eine alkoholfreie Bloody Mary gebracht.
Sie schlossen die Tür hinter sich.
Ich wollte weiterschlafen. Hoffentlich würde ich in meinen Albträumen nicht wieder mich selbst schreien hören.
Ich träumte von meiner Mutter. Von ihrem Gesicht. Ihrem lächelnden Gesicht. Im Traum kam sie zu mir.
Hab dich lieb, Mom
, sagte ich zu ihr.
»Hör auf zu trinken!«, schrie sie mich an. »Ich habe es dir schon mal gesagt: Hör auf mit dem Trinken!«
Als ich zum zweiten Mal erwachte, musste ich so dringend pinkeln, dass ich schon Tränen in den Augen hatte. Ich stellte mir vor, meine Blase wäre so groß wie eine Melone. Ich watschelte ins Bad, die Beine fest zusammengedrückt, schaffte es kaum bis zur Toilette, machte mein Geschäft, entspannte mich auf dem weißen Thron, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt. Dann stand ich schwankend auf und betrachtete mein Gesicht im Spiegel.
Ich sah aus wie der Tod.
Skelettartig, blass und hager. Das Tageslicht draußen und mein Magen verrieten mir, dass es Zeit zum Abendessen war.
Ich duschte, machte das Bett und öffnete ein Fenster. Ich griff zu meiner Handtasche, schlüpfte in meine umwerfenden Schuhe und steuerte mit knurrendem Magen auf die Treppe zu.
Der Große und der Kleine saßen im Wohnzimmer und tranken Kaffee. Beide erhoben sich und schauten mir lächelnd entgegen, als ich hereinkam.
Sie waren so freundlich, so um Sympathie bemüht und offensichtlich besorgt um mich, dass ich einfach zurücklächeln musste.
»Kaffee?«, fragten sie.
Ich bejahte, zog mein Portemonnaie hervor und bezahlte die zweite Nacht. »Danke«, sagte ich, »und Entschuldigung für meinen kleinen Ausfall.«
»Kein Problem«, sagte der Kleine munter und nahm das Geld entgegen. »Wir sind ja froh, dass Sie nicht auf den Boden gebrochen haben.«
»Und nichts kaputtgemacht haben«, fügte der Große hinzu.
»Ich auch. Sich übergeben ist eklig«, sagte ich und nippte an meinem Kaffee. Verflucht, war der gut. Ich gab einen großzügigen Schuss Sahne und sage und schreibe vier Teelöffel Zucker hinein. »Ich mache nie etwas kaputt. Kaputte Sachen machen Unordnung. Ich habe es lieber ordentlich.«
»Und Sie kennen sich mit Kaffee aus«, sagte der Kleine.
»Allerdings. Gibt schließlich keinen Grund, mit Sahne und Zucker zu knausern, echt nicht.«
Der Große beäugte mich. Er hatte braune Augen, groß und rund wie Karamellbonbons, dazu breite Schultern. Er gehörte zu den Menschen, die man sofort ins Herz schloss. »Ich glaube, Sie brauchen mehr Sahne im Leben.«
»Sie sind entschieden zu dünn«, sagte der Kleine.
Ich gab noch mehr Sahne in die Tasse. Ich wusste, dass ich zu dünn war. Mein Aussehen gefiel mir ja selbst nicht. Genau genommen mochte ich mein Aussehen seit Johnnys und Allys Tod nicht mehr. Als ich in Johnny verliebt war, hatte ich Kurven. Hüften, Busen, Oberschenkel. Ich wog mindestens zehn Kilo mehr als jetzt. Johnny fand das toll. Ich fühlte mich gesund. Nach seinem Tod bekam ich nichts mehr herunter.
Wenn ich es recht überlegte, hatte ich seitdem nicht mehr richtig essen können. Im Grunde genommen lebte ich von Weißwein, Cappuccino, Bananen (gut als Stimmungsaufheller), Rotwein, Donuts, Bier, Käse (lecker zum Wein) und Brot.
An manchen Tagen aß ich kaum etwas. Schon beim Aufwachen war mir elend.
Ja, ich wusste, dass ich zu dünn war. Ich sah aus wie ein Brett.
Weitere Kostenlose Bücher