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Blau wie Schokolade

Blau wie Schokolade

Titel: Blau wie Schokolade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Lamb
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und schlug mit beiden Fäusten gegen den Sandsack.
    »Wir wollten das Kind nach meinem Vater Grayson nennen, wenn es ein Junge würde, und Ally nach meiner Mutter, wenn es ein Mädchen würde.«
    Mir wurde übel. Seit zwölf Jahren hatte ich nicht mehr darüber gesprochen. Nur mit meiner Mutter, die mich bei meinen hysterischen Anfällen in den Arm nahm und wiegte. Es kam mir vor, als sei es gestern gewesen, ich spürte die Wucht meiner Trauer. Ich konnte es noch immer riechen.
    »Erzähl es mir, Jeanne!«
    »Nein, ich kann nicht.«
    »Doch, du kannst. Ich höre dir zu. Lass es heraus!«
    Es herauslassen? Es herauslassen, so dass es mich wieder bei lebendigem Leibe verschlang? Damit es mich wieder auf die Knie zwang? Wie komisch. Diese Therapeutin wusste, wie man seinen Patienten einen schönen Tag bereitete. »Zwei Wochen nachdem ich von meiner Schwangerschaft erfuhr, heirateten wir in einer Kapelle im Beisein von Johnnys und meiner Familie, ungefähr fünfzig Freunden und Lehrern von der Uni. Ich trug das weiße Hochzeitskleid aus Spitze von meiner Mutter und den Schleier, den sie getragen hatte, davor schon ihre Mutter und deren Mutter. Und Flipflops. Keine hohen Schuhe. Wir waren so glücklich. Samstags morgens und mittwochs abends machten wir uns immer Pfannkuchen.«
    Ich konnte mich gut an jene Abende erinnern. Wir studierten noch, hatten wenig Geld und kauften massenweise Pfannkuchenmischung. Die Pfannkuchen ertränkten wir anschließend in Sirup und Butter und aßen sie nackt vor unserem Kamin. Danach spielte Johnny Gitarre und ich Geige. Ebenfalls nackt.
    »Monate später war ein Betrunkener der Meinung, es wäre gut, wenn er über den Highway rasen und seinen Wagen frontal gegen unseren setzen würde.«
    Ich hörte, dass Emmaline ein ersticktes Geräusch von sich gab. Sie schlang die Arme um mich. »Ich nehme deinen Zorn, Jeanne«, rief sie. »Gib ihn mir! Gib ihn mir!«
    »Johnnys Kopf wurde abgetrennt.« Ich konnte meine eigene Stimme hören. Völlig beiläufig, gleichgültig und kühl angesichts des Schreckens, und doch sah ich es vor mir, als sei es gestern gewesen, als säße ich in einem Baum und könnte sehen, wie die schreckliche Tragödie ihren Lauf nahm. »Ich wollte ihm helfen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine waren sechsmal gebrochen. Mein Bauch fühlte sich an, als sei er explodiert. Ally starb. Sie starb. Unser kleines Baby starb.«
    Ich versuchte, mich Emmaline zu entziehen, doch sie ließ es nicht zu. Schließlich lehnte ich mich gegen sie, zitternd wie ein Blatt, ein abgebrochenes Blatt, umhergewirbelt vom Sturm.
    »Der Betrunkene stieg aus und schaffte es gerade noch, einen Krankenwagen zu rufen, dann kippte er um.«
    Ich spürte noch immer die Kälte jener Nacht in mir. Die Wärme meines Blutes. Allys und meines, vermischt, außerhalb meines Körpers, nicht in ihm, wo es sein sollte. Ich war im sechsten Monat. Ich sah Johnnys kopflosen Körper im Dunkeln, und dann klinkte ich mich aus. Es war, als würde mein Kopf dichtmachen, ich schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.
    Ich erwachte in einem kalten, sterilen Krankenhaus, lebendig, aber ohne Ally im Bauch. Ich erwachte und wusste sofort, dass Johnny nicht mehr da war. Ich schrie und musste sediert werden. Ich weiß noch, dass meine Mutter und die Krankenschwestern mich festhielten, in den Arm nahmen, mich auf Spanisch und Englisch trösteten.
    Emmaline wiegte mich. Ich glaubte, ich müsse mich übergeben. Mein Blick ging hinüber in die Bastelecke. Hätte ich heute nicht einfach etwas basteln können? Hätte ich nicht einfach direkt in die Schrei-Ecke gehen können? Hätte ich in jener Nacht nicht einfach sterben können?
    »Wie geplant, wurde die Kleine nach meiner Mutter Ally genannt und bekam den zweiten Vornamen Johnna wegen Johnny.« Meine Stimme brach. Jetzt war ich ein Blatt, das von einem Tornado fortgerissen wurde. Das zerbrechliche kleine Blatt wurde zerfetzt. Emmaline wiegte mich, vor und zurück, und ich ließ mich zu Boden sinken und glitt in einen Zustand, den man höflich als »Hysterie« bezeichnen konnte. »Deshalb spiele ich keine Geige mehr. Deshalb habe ich seit zwölf Jahren keinen Pfannkuchen mehr gegessen. Ich konnte einfach nicht. In meinem Leben gibt es keinen Pfannkuchen mehr. Keine Musik mehr. Nichts. Damals war ich zum letzten Mal ich selbst.«
    Mein trockenes, abgehacktes Schluchzen kam aus tiefster Seele, rau und rasiermesserscharf. »Johnny fehlt mir. Ally Johnna fehlt mir. Mein Gott,

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