Blaue Wunder
läuft’s über. Verdammt, was soll der Scheiß? Ich habe doch überhaupt keinen Grund zum Heulen. Es ist alles genau so gelaufen, wie ich wollte.
Ich näherte mich Martin von hinten. Er stand schon eine ganze Weile etwas verloren am Rand der Tanzfläche und nickte ab und zu seinen vorbei tanzenden Eltern zu. Ich hatte scharf aufgepasst, aber nicht ein einziges Mal war eine Frau an Martins Seite aufgetaucht, die seine Verlobte hätte sein können. Mist, wo war die doofe Kuh? Ich fühlte mich irgendwie betrogen, schließlich hatte ich mich in allererster Linie für sie schön gemacht. Ich wollte sie beeindrucken. Ich wollte ihr zeigen, dass sie gegen mich keine Chance hatte. Für sie hatte ich abgenommen. Für sie hatte ich mir von Maurice die Mitesser entfernen lassen. Für sie hatte ich gestern auf der Schaukel die Hälfte meines Burgers weggeschmissen. Für sie hatte ich mir die Wimpern viermal hintereinander getuscht.
Ich wollte ihr Angst einjagen. Und ich wollte ihren Respekt.
Und jetzt?
Ich kam mir vor wie jemand, der sich nach allen Regeln der Kunst an eine Blockhütte anschleicht, die Tür aufreißt, laut «Buh!» ruft und feststellen muss, dass sich keiner erschrocken hat, weil gar keiner da ist. Übereifer ohne entsprechendes Ergebnis. Ein blödes Gefühl.
Also versuchte ich mich auf meine eigentliche Mission zu besinnen: den Mann, den ich über alles liebte, für mich zu gewinnen.
«Hallo, Martin», sagte ich superlässig und stellte mich neben ihn.
«Elli! Was machst du denn hier?»
«Ich bin eingeladen. Stell dir vor.»
«Das ist ja eine Überraschung. Du siehst phantastisch aus, umwerfend!»
«Danke.»
«Bist du allein hier?»
«Ja. Und du? So ganz ohne Stumpi?»
«Ah, ja nun, sie hat eben diese Höhenangst, wie du vielleicht noch weißt, und da ist der 24. Stock für sie natürlich nicht ganz das Richtige.»
«Verdammt. Das hatte ich völlig vergessen.»
«Wieso verdammt?»
«Na ja, ich hätte deine Verlobte wahnsinnig gerne mal kennen gelernt.»
«Nun, sie ist eigentlich nicht mehr meine Verlobte.»
«Was?!»
«Ich habe es Astrid noch nicht gesagt, aber ich werde mich von ihr trennen. Morgen mache ich reinen Tisch.»
Martin schaute mich abwartend an und legte mir langsam einen Arm um die Hüfte. Ich sagte nichts. Ich wartete auf die Glückswelle, die mich in wenigen Sekunden überfluten würde. Das war’s also. Martin hatte sich entschieden. Für mich.
«Elisabeth, was sagst du dazu?»
«Ich bin sprachlos», krächzte ich.
«Dann lass uns tanzen.»
Ein unglaublich schlechter Sänger intonierte das schon in der Originalversion unglaublich schlechte «Jenseits von Eden» von Nino de Angelo. Das war natürlich selbst für jemanden mit einem eher unter- durchschnittlichen Musikgeschmack wie mich nur ganz schwer zu ertragen. Ich dachte, dass man das in der Nachbearbeitung eventuell korrigieren müsste. Ich finde es durchaus in Ordnung, Erinnerungen posthum ein wenig aufzurüschen.
Wahrscheinlich lügen doch die meisten Menschen, wenn sie von dem Moment berichten, in dem sie unwiderruflich ein Paar geworden sind. Es ist schon auffällig, dass da angeblich immer die Nacht sternenklar war oder wahlweise die Sonne durch die Wolken brach oder ein romantisches Gewitter tobte. Oft spielen sie im Radio ausgerechnet in den Sekunden vor dem entscheidenden Kuss «Just the two of us» von Bill Whithers oder, auch gerne genommen, etwas von Verdi. Und dann schmiegen sich Mann und Frau aneinander, der Blitz der Liebe fährt durch sie hindurch, und sie wissen, dass sie füreinander bestimmt sind.
«Es war perfekt», erzählen sie dann später und lächeln einander zu. Weil beide wissen, dass es anders war. Oder weil beide verdrängt haben, dass es anders war. Vielleicht hat er bei diesem Kuss an die Frau gedacht, die er eigentlich lieber küssen würde, die ihn aber nicht haben will. Vielleicht hat sie sich gefragt, ob er diesen säuerlichen Mundgeruch wohl immer hat oder ob es sich nur um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Vielleicht ist ihm unter dem sternenklaren Himmel beim Knutschen am Strand Sand unter die Vorhaut geraten. Aber das erzählt sich halt so schlecht.
Und irgendwie möchte doch jeder eine glanzvolle Erinnerung an den Beginn einer Liebe bewahren, die dann womöglich nicht ganz so glanzvoll weitergegangen ist. Wie viele Paare bekommen nur dann strahlende Augen, wenn sie vom Beginn ihrer Liebe berichten, die dann sofort wieder erlöschen, wenn es um das vorvergangene
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