Blaue Wunder
für immer darüber zu schweigen.
19. Stock
Die Türen öffnen sich. Das Pärchen steigt aus.
«Und jetzt noch einen Schampus aus der Minibar», flüstert er ihr ins Ohr. Sie schwankt ein bisschen und legt ihre Hand auf seinen Po.
Es war klar, dass Erdal mich in seinem Zustand nicht begleiten konnte. Seine Augen tränten fürchterlich und waren feuerrot.
«Es ist wohl besser, ihr sagt Karsten nichts davon», schniefte er. «Ich möchte nicht, dass er in Panik gerät. Außerdem ist er heute Abend mit seinem Exfreund verabredet, und ich will ihm unter keinen Umständen den Abend verderben.»
Als ich eine Dreiviertelstunde später das Haus verließ, ich war natürlich viel zu spät dran, traf ich Karsten im Treppenhaus.
«Ist es wirklich so schlimm?», fragte er im Hinauflaufen, drei Stufen auf einmal nehmend.
«Ich glaube nicht, aber gönn ihm ruhig den Triumph, diesmal wirklich was zu haben.»
Um Zeit zu sparen, hatte mir Erdal sein Auto überlassen. Ich düste also mit dem klapprigsten Fiat Panda, den man sich vorstellen kann, durch die Stadt, parkte in der Tiefgarage des Plaza Hotels und fuhr mit angehaltenem Atem und eingezogenem Bauch in den 24. Stock. Wolkenball!
«Ach, das Fräulein Dückers. Wie apart, Sie haben ein wenig abgenommen.»
Na, das war ja klar, dass ich bei meinem Glück als Erstes Martins Mutter über den Weg laufen würde. Aber diesmal war ich nicht bereit, mich von der alten WC-Ente erneut herabwürdigen zu lassen. Auch wenn ich dereinst womöglich ein Teil ihrer Familie sein würde.
Hier und jetzt mussten die Fronten geklärt werden! Ich lächelte Frau Gülpen freundlichst an.
«Guten Abend. Kennen wir uns?»
War mir das ein Vergnügen! Frau Gülpen war einen Moment lang sprachlos. Dann streckte sie mir ruckartig ihre Hand entgegen.
«Henriette Gülpen, von Bäder-Gülpen in Hamburg-Lokstedt. Mein Sohn war mal ganz kurz mit Ihnen bekannt, wenn ich mich recht entsinne.»
«Da täuscht Sie Ihre Erinnerung, Frau Gülpen, ich bin immer noch mit Ihrem Sohn befreundet. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss dahinten einige Bekannte begrüßen.»
Ich schenkte ihr ein vom kalten Herzen kommendes Lächeln und ging. Na bitte, das hatte ja prächtig funktioniert. Meine zukünftige Schwiegermutter hatte ich schon mal gekonnt vergrault. Aber ich kam mir wahnsinnig authentisch dabei vor.
«Verstell dich nicht», hatte die weise Petra mir geraten, «wer dich nicht mag, wie du bist, hat selber Schuld.» Der oberschlaue Erdal war da allerdings wieder mal anderer Meinung. Verstellung sei schließlich das halbe Leben, und man könne gar nicht genug daran arbeiten, auf möglichst natürliche Weise unnatürlich zu sein, dozierte er. Ich solle mir bitte mal ganz kurz vorstellen, was auf dieser Welt passieren würde, wenn wir alle nur noch über die Witze lachen, die wir wirklich gut finden, und uns jedem Kontrolleur gegenüber, der uns beim Schwarzfahren erwischt, absolut authentisch verhalten. Natürlich sein bedeute, sich so perfekt zu verstellen, dass man es selber kaum noch merke.
Aber ich beschloss, diesmal nicht auf ihn zu hören. Ich war perfekt geschminkt, aber meinen Charakter würde ich heute Abend ohne Make-up und ohne Rouge auf die Menschheit loslassen.
Die meisten Ballgäste hatten noch nicht Platz genommen. Ich schaute mir die Namenskärtchen auf den Tischen an auf der Suche nach den Plätzen von Martin und Astrid. Nach meinem Platz brauchte ich erst gar nicht Ausschau zu halten. Erdal hatte zwar gute Kontakte, aber diesmal hatten sie nicht gereicht, uns Tischkarten zu be- sorgen. Ich hatte eine so genannte Flanierkarte, das heißt, du darfst dich am Büffet bedienen, an Stehtischen essen und dabei den Gästen erster Klasse auf den Teller glotzen.
Mir war’s recht. In einem Kleid, in dem man kein Gramm Luft zu viel holen durfte, war an Essen ja sowieso nicht zu denken. Ich wollte lieber aus sicherer Entfernung Martin und Astrid beobachten, um dann in einem strategisch klugen Moment einen beeindruckenden Auftritt hinzulegen.
«Martin G. Gülpen». Ich hatte seinen Platz gefunden. Er saß zwischen seinen Eltern. Am ganzen Tisch keine Spur von Arschtritt Stumpi Crüll. Seltsam. Ich zog mich in eine Ecke des Foyers zurück.
15. Stock
Ein dicker Typ steigt zu, tritt mir auf den Fuß und entschuldigt sich nicht. Ich bemerke entsetzt, wie sich ein großer Kloß in meinem Hals bildet und literweise Tränenflüssigkeit Richtung Augenränder schwappt. Gleicht
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