Blaue Wunder
möchte, dass ihr als Erste erfahrt, was morgen alle wissen werden. Ihr habt ja in der Zeitung die Spekulationen gelesen, ob ich lesbisch sei und mit wem ich da so spätnachts nach Hause kam. In einem Interview, das morgen erscheint, stelle ich das alles klar.»
Tina macht eine Pause. Niemand rührt sich.
«Um zwei Dinge zu klären: Die Frau an meiner Seite war Elli. Sie steht da rechts am Büffet. Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass Elli meine Freundin ist, aber sie ist definitiv nicht lesbisch. Leider.»
Alle drehen sich zu mir hin und prosten mir zu. Unnötig zu erwähnen, dass ich zu diesem Zeitpunkt aussehe wie eine Bloody Mary mit besonders viel Tabasco und am liebsten im Boden versinken möchte. Es ist nicht so, dass ich grundsätzlich ungerne im Mittelpunkt stehe. Aber ich werde lieber vorgewarnt. Und zwar rechtzeitig genug, um vorher ein deckendes Make-up aufzulegen.
Gott sei Dank spricht Tina weiter.
«So, und jetzt muss ich euch noch was sagen. Ich weiß nicht, ob ich lesbisch bin, aber eins weiß ich hundertprozentig: Ich liebe eine Frau. Diese Frau! Carolin, kommst du bitte zu mir hoch?»
Eine zierliche Frau mit langen dunklen Haaren klettert neben Tina auf den Tresen. Erschüttertes Schweigen. Eine ältere Dame schluchzt leise. Sicherlich Tinas Mutter, die sich im Geiste von ihren ungeborenen Enkelkindern verabschiedet.
Irgendwie weiß hier keiner so recht, wie er auf dieses Outing reagieren soll. Es ist Erdal, der die Situation rettet. Er klatscht und ruft: «Freunde, es lebe die Liebe!» Und das löst endlich die Spannung. Alle klatschen. Selbst Tinas Mutter wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, schüttelt Carolin vorsichtig die Hand und sagt, es habe sicherlich auch Vorteile, statt des erwarteten Schwiegersohnes nun eine Schwiegertochter zu bekommen. Mädchen seien von ihrem Wesen her ja einfach viel lieblicher und familienorientierter, und das gelte doch hoffentlich auch für schwule Mädchen, oder?
Ich muss selbstverständlich vor lauter Rührung weinen. Und es ist Erdal, der mich freundschaftlich darauf aufmerksam macht, dass die Wimperntusche, die ich benutze, ganz offensichtlich keine wasser- feste ist. Ich beschließe, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es ist eine warme Nacht, und schlafen kann ich jetzt sowieso nicht.
Ob morgen alles wieder von vorne anfängt: der Kummer, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, der Hass, die Rachepläne und das ganz langsame Sichfügen ins Unvermeidliche? Oder lässt sich der Schmerz der vergangenen Wochen anrechnen auf den Schmerz, der mir vielleicht erneut bevorsteht? Ich will Martin nicht wieder verlieren. Oder will ich einfach nur nicht verlieren?
Ich habe mir auf dem Rückweg einen Royal TS gekauft, und jetzt sitze ich mitten in der Nacht auf dem Spielplatz bei mir um die Ecke, kauend, schaukelnd, nachdenkend.
Ich will mich ein bisschen jung fühlen, deswegen habe ich diesen Platz gewählt. Einen Burger auf der Schaukel essen, das tut man doch nur, wenn man von innen noch nicht erwachsen ist, oder? Ich bin betrunken und sentimental und davon überzeugt, dass mein Leben hinfort einer besonders öden Ödnis gleichen wird. Keiner will mich. Martin lässt sich von der bösartigen Schlampe in apricotfarbener Wäsche in Bielefeld die Buchhaltung machen. Super-Nucki wird unfreundlich, sobald er mich nur zu Gesicht bekommt, und verwandelt sich in Dagmar Berghoff, wenn ich mich an ihn lehnen will.
Und Gregor hat gerade sein zweites Kind bekommen. Ein Mädchen. So entzückend. Die kleine Gwendolyn. Das hat mir meine Mutter gestern vorwurfsvoll am Telefon berichtet.
Warum bleibe ich bloß immer übrig? Die absurdesten Leute finden auf dieser Welt einen Partner. Leute, die dicker sind als ich, kleiner, dümmer. Sogar Männer, die Socken in ihren Adiletten tragen, finden heutzutage eine adäquate Lebensgefährtin. Und zeugen Kinder, denen sie dann absurde Namen geben.
Gwendolyn. Ich muss doch wirklich sehr bitten. Ich bin sicher, dass Gregors Frau daran schuld ist. Das kommt nämlich dabei raus, wenn sich Leute vom Dorf im Grunde ihres Herzens für verhinderte Kosmopoliten halten. Die verpassen ihren Kindern Namen, die im Münsterland garantiert noch keine Sau gehört hat und die kein Mensch aussprechen kann. Hauptsache, was Besonderes. Und wenn’s nur besonders doof ist.
Am schlimmsten hat es in Hiltrup ja die Tochter von Theo und Stefanie Grube getroffen. Steffi kam sich schon immer ungeheuer damenhaft vor, und seit sie in Französisch eine Zwei minus
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