Blauer Montag
war. Ich konnte damit umgehen, wenn der Anwalt neben ihm auf dem Gehsteig stand und sich darüber ausließ, dass sein Mandant nun rehabilitiert sei, und dem Gericht für sein Urteil danke. Am Ende lief es nur auf den Papierkram und die Zielvorgaben hinaus. Am Ende konnte ich es einfach nicht mehr ertragen.«
»Joanna Vine«, sagte Karlsson in sanftem Ton. »Was ist aus den Ermittlungen geworden?«
»Nichts. Absolut nichts. Ich werde Ihnen sagen, wie das war. In meiner Küche habe ich ein Schränkchen, an dessen Tür der Griff fehlt. Um sie aufzubekommen, muss man die Fingernägel in die Ritze schieben. Bei den Ermittlungen im Fall Joanna Vine ging alles seinen gewohnten Gang. Wir richteten eine Einsatzzentrale ein, nahmen Hunderte von Zeugenaussagen auf, schrieben Berichte, gaben Pressekonferenzen und hielten Besprechungen über unsere Fortschritte ab. Aber es gab keinen einzigen richtigen Hinweis – keinen Ansatzpunkt, in den man die Fingernägel schieben konnte.«
»Wie ging das damals weiter?«
»Für die Pressekonferenzen waren bald keine großen Räume mehr nötig. Wir wussten nicht mehr, was wir noch tun sollten. Plötzlich war ein Jahr vergangen. Nichts war passiert. Niemand war zusammengebrochen.«
»Was für einen Eindruck hatten Sie?«
»Was für einen Eindruck? Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«
»Ich meine, wonach roch die Sache für Sie? In welche Richtung gingen Ihre Vermutungen?«
Tanner lächelte säuerlich. »Ich bin aus dem Fall nicht schlau geworden. Nach ein paar Tagen befürchtete ich, dass wir sie in einem Graben oder Kanal finden würden oder in einem flachen Grab. Diese kranken Mistkerle handeln doch meistens aus einem spontanen Impuls heraus. Hinterher wollen sie nur möglichst schnell alles loswerden, was sie belasten könnte. In
diesem Fall hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich so verhielt, konnte aber auch nicht sagen, was für ein Gefühl ich stattdessen hatte. Da war einfach nichts. Wie analysiert man nichts? Vielleicht hat er – oder sie – schlicht und ergreifend den richtigen Ort für ihr Grab gefunden. Wie laufen denn Ihre Ermittlungen ?«
»So ähnlich wie Ihre. Ein paar Stunden lang haben wir gehofft, dass er wieder auftauchen würde. Dass er sich verlaufen oder in einem Schrank versteckt hatte oder bei einem Freund geblieben war. Wir haben mit den Eltern gesprochen. Sie sind nicht getrennt. Wir haben mit einer Tante gesprochen. Der Bruder der Frau wohnt ganz in der Nähe. Er ist arbeitslos und trinkt. Wir haben ihn ziemlich in die Mangel genommen. Jetzt warten wir.«
»Wie sieht es mit Überwachungskameras aus?« »Er ist entweder sehr clever oder hatte Glück. Wie sich herausgestellt hat, funktioniert die Kamera am Schultor nicht. Es ist ein gut gehütetes Geheimnis, dass etwa ein Viertel der Kameras kaputt oder nicht eingeschaltet ist. Trotzdem wissen wir, dass der Kleine aus dem Schulhof marschiert ist. In der Nähe seines Elternhauses gibt es ein paar Kameras, die an Geschäftsgebäuden und neben einem Pub angebracht sind. Auf denen war er nicht zu sehen, aber angeblich sind sie schlecht ausgerichtet, sodass sich daraus auch keine gesicherten Erkenntnisse ziehen lassen. Fest steht allerdings, dass er auf dem Heimweg an einem Park vorbeimusste, wo es keinerlei Kameras gibt.«
»Könnten Sie nicht die Kennzeichen der Autos überprüfen, die in das Viertel hineingefahren sind und dann wieder heraus?«
»Wir sprechen hier von Hackney, nicht von einem Rotlichtviertel um zwei Uhr morgens. Da wüssten wir doch gar nicht, wo wir anfangen sollten.«
»Vielleicht müssen Sie nun auch wieder zwanzig Jahre warten.«
Karlsson erhob sich. Er zog eine Karte aus seiner Brieftasche
und reichte sie Tanner, der auf eine ironische Weise amüsiert wirkte. »Sie wissen ja, was jetzt kommt«, meinte Karlsson, »aber wenn Ihnen noch etwas einfällt, und sei es nur eine Kleinigkeit, dann rufen Sie mich an.«
»Das ist kein gutes Gefühl, stimmt’s?«, antwortete Tanner. »Wenn man sich auf den Weg machen und mit jemandem wie mir sprechen muss?«
»Unser Gespräch war für mich durchaus hilfreich. Ich bin fast froh darüber, dass es für Sie auch so schlimm war wie für mich.«
Zusammen gingen sie zur Tür.
»Das mit Ihrer Frau tut mir leid«, bemerkte Karlsson. »Besteht Aussicht auf Besserung?«
»Nein, es wird immer schlechter«, entgegnete Tanner. »Der Arzt sagt, es wird lange dauern. Brauchen Sie ein Taxi?«
»Mein Fahrer wartet draußen.«
Als Karlsson vor
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