Blauer Montag
solchen
Fällen oft das einzig Richtige. Nur so schafften es die Leute, nicht wahnsinnig zu werden.
»Das da ist Rosie, und das mein Mann George. Und hier sehen Sie meine beiden jüngeren Töchter, Abbie und Lauren. Ich habe geweint, gebetet und getrauert, und am Ende habe ich mich dann verabschiedet und die Vergangenheit hinter mir gelassen. Ich möchte mich nicht mehr an diese Zeit erinnern, sondern nur noch nach vorne blicken. Das bin ich auch meiner neuen Familie schuldig. Klingt das für Sie herzlos?«
»Nein.«
»Für manche Menschen schon.« Ihr Mund bekam einen bitteren Zug.
»Sie meinen Ihren Exmann?«
»Richard hält mich für ein Ungeheuer.«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
»Sind Sie deswegen gekommen? Glauben Sie immer noch, dass er es war?«
Karlsson betrachtete sie – ihr hageres Gesicht und ihre leuchtenden Augen. Er mochte diese Frau. »Ich glaube gar nichts. Ehrlich nicht. Es lässt mir nur keine Ruhe, dass der Fall nie aufgeklärt wurde.«
»Angeblich sieht es bei ihm aus wie in einem Schrein. Die heilige Joanna inmitten von lauter Whiskyflaschen. Wobei das vermutlich nichts heißen muss.«
Da hatte sie recht. Nach Karlssons Erfahrung waren Mörder oft sentimentale, narzisstische Menschen. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass ein Vater seine Tochter ermordete und dann bitterlich um sie weinte, wenn er im Suff vor Selbstmitleid zerfloss.
»Sehen Sie ihn noch manchmal?«
»Schon seit Jahren nicht mehr. Im Gegensatz zu der armen Rosie. Ich versuche immer, es ihr auszureden, aber sie fühlt sich irgendwie für ihn verantwortlich. Sie ist zu weichherzig. Für sie selbst ist das gar nicht gut. Ich wünschte …«
Sie hielt inne.
»Was?«
Aber sie schüttelte nur heftig den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Ich wünschte nur… Sie wissen schon.«
Richard Vine bestand darauf, aufs Polizeirevier zu kommen, statt Karlsson bei sich zu Hause zu empfangen. Er hatte einen Anzug angezogen, der so alt war, dass er an manchen Stellen glänzte und um den Bauch und die Brust herum spannte. Darunter trug er ein weißes Hemd, das er bis obenhin zugeknöpft hatte, sodass es seinen Adamsapfel einengte. Sein Gesicht wirkte aufgeschwemmt, seine Augen ein wenig blutunterlaufen. Mit zitternden Händen griff er nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
»Wenn es keine Neuigkeiten gibt, wozu dann dieses Gespräch ?«
»Ich nehme den Fall noch einmal unter die Lupe«, erwiderte Karlsson vorsichtig. Viel lieber hätte er Richard Vine in dessen eigener Behausung befragt. Die Umgebung eines Menschen sagte viel über den Betreffenden aus, selbst wenn dieser in Erwartung des Besuchs vorher aufräumte. Wahrscheinlich schämte sich Vine, Fremde sehen zu lassen, wie er hauste.
»Ihre Kollegen haben damals die ganze Zeit versucht, mich zu einem Geständnis zu bewegen. Währenddessen ist der wahre Mistkerl ungestraft davongekommen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Haben Sie mit ihr auch geredet, oder befragen Sie nur mich?«
Karlsson gab ihm keine Antwort. Es machte ihm zu schaffen, dass er seine Nase in Menschenleben stecken musste, die derart von Kummer und Chaos geprägt waren. Warum saß er jetzt überhaupt hier? Doch nur aus einer spontanen Eingebung heraus, einem Bauchgefühl, das jeder rationalen Grundlage entbehrte. Weil er ein Gefühl von Ohnmacht empfand und keine
richtigen Spuren hatte. Matthew Faraday und Joanna Vine, zwei Fälle, zwischen denen zweiundzwanzig Jahre lagen und die nichts anderes gemein hatten als die Tatsache, dass die Opfer zum Zeitpunkt ihres Verschwindens im gleichen Alter waren und beide sich mitten am helllichten Tag in der Nähe eines Süßwarenladens in Luft aufgelöst hatten.
»Schließlich war sie diejenige, der Joanna abhanden gekommen ist. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, auf sie aufzupassen, aber sie hat sie einer Neunjährigen aufgehalst. Und danach hat sie Joanna einfach aufgegeben. Sie hat ihre Fotos zusammengepackt und in einer Schachtel verschwinden lassen, ist in ein anderes Haus gezogen und hat Mr. Ehrenwert geheiratet. Mich und Joanna hat sie einfach vergessen. Das Leben muss weitergehen . Das hat sie zu mir gesagt, als sie mich mal besuchen kam. Das Leben muss weitergehen . Also, ich gebe unsere Tochter nicht auf.«
Den Kopf auf eine Hand gestützt, hatte Karlsson ihm zugehört und dabei mit seinem Stift sinnlose Kritzeleien über seinen aufgeschlagenen Notizblock verteilt. Für ihn klang es, als hätte
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