Blaulicht
anzukommen, »verstehen Sie mich? Ich – suche – meinen – Freund – Vašek!«
»Vašek«, brüllt der Bär, »ich Vašek! Gibt überall Vašek! Vašek ist Václav. Du ruft Václav oder Vašek bei uns – kommen viele Männer, kommt halb ˇCesko. Darum wir sagen Vena oder Venouš oder Váša oder Vašíˇcek …«
»Ein älterer Herr mit Glatze – Mann mit wenig Haaren!« unterbricht Gloßner schreiend die Ableitungsliste des tschechischsten aller tschechischen Männernamen.
»Sieht aus wie fizl ?«
»Wie was? Fiesel?«
»Wie sagt man bei euch? Bulík – ist Mann von Kuh!«
»Sie meinen Bulle?« brüllt Gloßner zurück, und er ist sich in diesem Augenblick sicher, dass irgendwo im Blauen Affen ein Fernsehteam von ›Vorsicht Falle‹ oder ›Achtung Kamera‹ aufgebaut ist und dies alles in Echtzeit in die Fürther Dienststelle überträgt. Aber kurz bevor ihm sein neuer Freund ein volles Wasserglas in die Hand drücken kann, in dem sich garantiert kein Wasser befindet, um anschließend, seinerseits mit einem vollen Glas in der Hand, in eine bestimmte Richtung zu deuten, sieht er bereits selbst seinen Vašek an der Theke lehnen und mit einer Walküre dahinter sprechen.
»Ist Lenka«, stellt Vašek vor, als Gloßner sich endlich durch Arme, Schultern, Bäuche und viele, viele Brüderschaftsbezeugungen an den Tresen durchgekämpft hat, »und Lenka weiß von einem šnicl , der hier in der Nähe ein Haus hat.«
»Ein was?«
Vašek wackelt freudig strahlend mit zwei Schnapsgläsern.
»Schnitzel! So heißen hier die Deutschen. Ist nur špas! Na zdraví , Sigi!«
»Nix Nasdrovje. Vašek, willst du mir erzählen, dass das hier weit und breit der einzige Deutsche ist, der ein Ferienhaus hat? Ist doch alles so verdammt günstig bei euch!«
»Und was sagst du zu Ferienhaus mit Aquarium, Sigi? Mit enorm großen Aquarium. So groß, dass es macht viele Scherben, wenn kaputt geht.«
*
Auf und ab, auf und ab. Die Hände – die Pranken – zu Fäusten geballt. Die Luft riecht nach Schweiß und schmutzigem Wasser, nach Regen. Wie kann es hier nach Regen riechen? Es knirscht unter seinen Füßen. Die ausgefahrenen Krallen knirschen auf rauem Stein.
»Den Menschen ist nichts heilig! Damals nicht und heute erst recht nicht. Alles wird in den Dreck gezogen, alles mit Füßen getreten, mit Scheiße beschmiert – ja, mit Scheiße! Heute spielen sie Bach auf Kaufhaustoiletten. Auf gottverdammten, verdreckten Toiletten! Sie spielen die Allemande aus der Es-Dur-Suite auf einem Kaufhausklosett, ich hab es gehört! Ich hab es gehört! Ich hab geschrien, ich hab die Lautsprecher aus der Wand geschrien, die Pissoirs heruntergeschrien, aber die Musik war überall, hatte sich in den Fugen der Fliesen festgesetzt, ließ sich nicht abwaschen. Dann kam dieser Mann und ich bin rausgelaufen, aber die Musik ist hinterher gekommen, hat sich an mich geklammert. Sie wollte, dass ich ihr helfe, aber ich konnte ihr doch nicht helfen! Ich konnte sie nicht mal spielen – nicht mit diesen Händen. Aber ich konnte ihr einen Raum bauen, einen Raum, in dem sich niemand an ihr versündigen kann. Man muss raus aus dieser Welt, wenn man erfahren will, was heilig ist. Deshalb hab ich dieses Haus gesucht, weit weg von allem. Dieses Haus für sie und für mich. Erst hier hat deine Schwester gemerkt, dass es kein Spiel ist, wenn man Bach spielt. Wenn man Bach spielt, geht es immer ums Leben. Hier auf diesem Stuhl ist sie gesessen, da, wo du jetzt sitzt. Genau da, wo du jetzt sitzt, ist sie auch gesessen und hat sich mitten im C-Dur-Praeludium vollgepinkelt! Weil sie Angst bekommen hat vor ihren eigenen Fehlern – sie hat ihrer Unzulänglichkeit ins Gesicht sehen müssen! Oh ja, das ist eine bittere Lektion. Ab Takt 47 bleibt die Bassstimme sechzehn Takte lang als Orgelpunkt auf der Dominante stehen, aber man darf nicht monoton werden, die Oberstimme muss weiterfließen, der Atem muss weiterfließen, die Stimme will singen! Der Atem ist der Bogen, der Bogen der Atem! Zwei Stimmen, ein Spiel, ein Zusammenfluss. Sie hat Angst bekommen, nach neun Takten hat sie schon Angst bekommen vor ihren eigenen Fehlern – und vor den Folgen. Und sie hätte doch gar keine Angst haben müssen! Da draußen war niemand, der ihr Versagen hätte hören können – und wenn sich doch einer hierher verirrt, hört er trotzdem nichts von der Musik im Keller. Hier kannst du spielen, wann immer du willst und was du willst. Niemand hört
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