Blaulicht
die Patientin »den Umständen entsprechend« in guter körperlicher Verfassung sei, höchstwahrscheinlich jedoch – ganz schlüssig sei er sich noch nicht – eine Bewusstseinstrübung, ein sogenanntes Durchgangssyndrom, vorliege. Schließt mit den Worten, die er bereits am Telefon geäußert hat, dass er seine eigene Anwesenheit für nötig halte, und so betreten sie zu dritt das stickige Halbdunkel um Sandra Kovács.
Selbst Kalz scheint angesichts des blassen Wesens, das in sich zusammengekrochen auf dem Bett sitzt und die Teetasse anstarrt, die es mit beiden Händen zum Mund führt, einen kurzen Moment von einer Gefühlsregung ergriffen, vielleicht, weil er unwillkürlich einen Vergleich zieht zum frischen Aussehen ihrer jüngeren Schwester; Zoe wiederum hat das Porträt aus der Bild-Zeitung vor Augen, vielleicht ein Ausschnitt aus einem alten Klassenfoto, das der findige Reporter auf Facebook oder Stayfriends erbeutet hat. Von diesem Kontrast erschüttert, beschließt sie kurzerhand, einer unpassenden Äußerung von Kalz zuvorzukommen, zu verlieren hat sie ohnehin nichts mehr, und sagt: »Hallo. Ich heiße Zoe. Darf ich Sandra zu dir sagen?« Und noch während sie die Worte spricht, fühlt sie sie auf dem Weg zur Empfängerin ersterben, »es war so ähnlich«, wird sie keine achtundvierzig Stunden später zu einer gewissen Frau Dr. Halbritter sagen, »als würde ich im Traum einer Ertrinkenden die Hand reichen wollen, und mir verdorrt der Arm dabei.«
*
»Stell dich nicht so an! Spring! Dir kann doch nichts passieren!«
Gerlachs Kopf ist angefüllt mit Wasser.
Wasser ist das, womit man kalt übergossen wird. Als Rosskur gegen die chronische Bronchitis.
Wasser ist das, was die Großmutter nimmt, um ihn krebsrot zu schrubben, nachdem das Nachbarsmädchen und er sich nackt ausgezogen und bunt wie Indianer bemalt hatten.
Wasser ist das, was in die Ohren läuft, wenn die Mutter ihm die Haare wäscht. Was Shampoo in die Augen spült und immer droht, die Luft zu nehmen.
Wasser ist das, was sich im Italienurlaub am Strand zu Wogen ballt, die bis über seinen Kopf wachsen können.
Und das, was er vom Rand des Schwimmbeckens betrachtet und wo er hineinspringen soll.
Die Kacheln sind hellblau. Es riecht nach Chlor. Die Schwimmlehrerin schreit. Die anderen Kinder schauen ihn an. Alle wollen wissen, ob er sich endlich traut.
»Stell dich nicht so an! Spring! Dir kann doch nichts passieren!«
Wasser ist das Element der anderen.
Wasser ist das, wo alle sich jauchzend hineinstürzen.
Alle außer Gerlach, der sich niemals duscht. Nur wäscht.
Wasser ist das, worin die Zierfische im Wohnzimmeraquarium schwimmen. Seine Mutter hat eine versunkene Welt darin erschaffen. Manchmal sieht es so aus, als spielten die Fische Versteck im Schiffswrack und zwischen den bemoosten Tempelsäulen.
*
Es war kein hellblaues Erwachen – war kaltes Weiß. Keramik, Glas.
Die Fische – Mückenlarven.
Schwimmende Würmer ziehen erschreckte Bahnen um die Säulenbeine eines Kolosses, ahnen nichts von Flügelschlägen, von Wind, der sie nie tragen wird.
›Singen heißt mich das Herz von Gestalten, verwandelt in neue Leiber‹.
Ein anderes Leben. Wie lange vorbei? Wie weit?
Die Nacht ist endlos schwarz. Kein Schlaf, kein Traum.
Würmer bleibt ihr. Werdet nie singen im nächtlichen Rausch, bleibt stumm, bleibt stumm für immer.
*
»Frau Kandeloros, das hat doch alles keinen Sinn. Diese Junkies müssen wachgerüttelt werden.«
In Kalz hat sich zu viel angestaut während der drei Minuten, in denen Zoe versuchte, Sandra wenigstens irgendeine Reaktion zu entlocken, und wenn es nur ein Zucken des Mundwinkels wäre, ein Aufflackern von Leben in ihren Augen, aber die inneren Räume, in die sie sich zurückzieht, scheinen unzählbar und jeder einzelne von ihnen grenzenlos. Sandra Kovács kauert auf dem Bett wie auf einem Floß, auf dem einer sie ausgesetzt und in eine Strömung gestoßen hat, längst hat sie sich damit abgefunden, dass sie unaufhaltsam dem Wasserfall entgegentreibt, der sie in die Tiefe reißen wird, und Kalz wird zum Piraten, der den Enterhaken auswirft, getrieben vom Verlangen, selbst einer Schiffbrüchigen noch Beute abjagen zu wollen, indem er jetzt unvermittelt Sandra an beiden Schultern fasst und sie aus Zentimeternähe anherrscht, »Frau Kovács! Ihre Spielchen können Sie mit anderen spielen. Mit mir nicht. Wir sind den Dealern auf der Spur, die Leuten wie Ihnen das
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