Blaulicht
dem bisschen, was die Frau nach Hause bringt.
So wäre es gewesen, wenn Fabian Menzel vor hundert Jahren auf die Welt gekommen wäre, weil sich damals vieles im Kreis drehte und man deswegen die eigenen Kreise nur schwer bis gar nicht verlassen konnte. Heute dreht sich immer noch vieles im Kreis, aber man kann ausbrechen.
Fabian ist ausgebrochen, sehr früh ausgebrochen. Als einziger seiner sechs Geschwister war er auf ein Gymnasium gegangen. »Frau Menzel, der Fabian ist zu intelligent, um nur den Quali zu machen!« – er hatte Glück mit seiner Lehrerin – und er hatte ein ausgesprochen gutes Gehör, deshalb wurde es das Hans-Leo-Haßler-Gymnasium.
Auf dem HLH war alles anders, als er es kannte. Dort gab es keine Hartz-IV-Eltern, keinen Geruch nach billigem Essen und abgestandenem Alkohol. Seine Mitschüler dort hatten keine ebenso verkrüppelten wie verbitterten Väter daheim, keine Mütter, die unter der Woche putzen gingen und sich am Wochenende mit Magenbitter von Aldi oder Norma die Kante gaben. Das HLH war für Fabian eine ganz neue Welt, freilich eine Welt, in der er schräg angeschaut wurde, aber trotzdem so etwas wie sein ganz persönlicher Elfenbeinturm, eine helle und saubere Insel des Schönen und Guten in einer klebrigen Wüste aus Dreck, Wut und Suff. Dass er dort ein Außenseiter war – was hat es ihn gekümmert – er wollte lernen, später studieren, Informatik, versteht sich – hatte auf seine Mitschüler sowieso keinen Bock. Lernen und Schlagzeug spielen, Trommeln, den Rhythmus im Körper fühlen, die Wut in Bahnen lenken, in Takte, in eine Metrik.
War es Rizzo, der Superpianist Rizzo, der ihn als erster angesprochen hatte, oder war es Sandra gewesen? Egal. Der Bandname jedenfalls war von ihm gekommen, Blue Sunshine , nach dem legendären Kultschockerfilm aus den Siebziger Jahren. Ein paar Collegeschüler nehmen Blue Sunshine, irgendeine coole Droge. Zehn Jahre später fallen ihnen die Haare aus und sie gehen auf Leute los – völlig crazy, Mann! Er hat schon immer auf diese B- und C-Movies gestanden – Braindamage , Basketcase , Motel Hell – alles Zeug, das lang vor seiner Geburt entstanden ist. Filme, die mittlerweile unterm Internetladentisch gehandelt werden, weil die Müsligesellschaft nur ihre Scheißmüsliidylle, ihre Ramawelt duldet und keine Bilder sehen will von Menschen, die andere Menschen abschlachten, weil es nach zehn Jahren klick in ihren Köpfen gemacht hat.
Hätte Fabi damals schon gewusst! Hätte er gewusst, dass Sandra ein paar Jahre später mit dem Messer auf den Gerlach …!
Hat er aber nicht. Er war glücklich, endlich wo mitzumachen, mit anderen, mit Leuten, die genau wie er nicht dazugehörten. Rizzo, weil er keine Eltern und keine Lust auf all die funny people hatte, die pummelige Heike aus Norddeutschland, die sich immer fremd fühlte und auch allen Grund dazu hatte, und Sandra, deren Elternhaus ungefähr so wie sein eigenes war – nur mit Geld. Blue Sunshine war gut, die Band hatte Erfolg, und Fabian endlich so etwas wie eine Familie aus Gleichgesinnten.
Als Rizzo tot war, wurde alles anders. Seit fast drei Jahren hat Fabian kein Zuhause mehr, dafür jede Menge connections zum Pennen.
*
Die Klingeltafel des dreistöckigen Altbaus in der Mittleren Kanalstraße ist nur noch mit einem einzigen Namen beschriftet, Muzaffer Yildirim, zweiter Stock rechts, und die Kneipe im Erdgeschoss hat ihren letzten Gast offenbar vor vielen Jahren gesehen. Hinter schmutzig trüben Scheiben stapeln sich Stühle und Tische, an den Wänden hängen Plakatfetzen, zeugen Graffiti vom antibürgerlichen Selbstverständnis dieses ehemaligen Szenetreffs. Kalz rümpft die Nase und steigt die Treppe hinauf, wobei er sorgfältig darauf achtet, weder der schmuddeligen Wand noch dem wackligen Geländer zu nahe zu kommen, geht den schweren, harten Gitarrenklängen entgegen, die man bis auf die Straße hört, und stößt im dritten Stockwerk eine angelehnte Wohnungstür auf. Ein Mädchen mit grünen Strähnen im weißblonden Haar läuft über den Flur, sieht Kalz und ändert ihren Kurs in Richtung des Zimmers, aus dem die Trommelfellattacken dringen.
»Fabi! Da steht so’n Typ im Flur!«
Dann verzieht sie sich in einen Raum, in dem zwei elektrische Herdplatten eine Küche andeuten.
Fabian Menzel sitzt im Schneidersitz auf einer Matratze und ist damit beschäftigt, eine neue Saite auf eine E-Gitarre aufzuziehen. Vor ihm steht eine Holzkiste, die als Tisch
Weitere Kostenlose Bücher