Blaulicht
»keine schlechte Idee« kommt dennoch mehr als überraschend, und prompt bekommt sie rote Ohren.
»Was haben Sie sonst noch rausgefunden, was war mit der Schwester und dieser Schulfreundin, wie hieß die noch gleich?«
»Heike Harms«, Zoe reicht ihm das, was sie bisher protokolliert hat und fasst knapp das Ergebnis des zweiten Besuchs bei der jungen Buchhändlerin zusammen. Kalz hört aufmerksam zu und macht sich dann über die Aufzeichnungen.
Während er liest und dabei gelegentliche »Hm« von sich gibt, blättert Zoe weiter in Sandras Vergangenheit. An einem Foto der beiden Schwestern bleibt ihr Blick eine ganze Weile hängen. Sandra und Leonie, offenbar bei einer Ballettaufführung abgelichtet. Leonie trägt ein kurzes weißes Tutu und ein Strasskrönchen im hochgesteckten Haar, Sandra ein rotgoldenes Ganzkörpertrikot, das mit Rosen verziert ist, genau wie ihr langes blondes Haar. Die beiden Mädchen strahlen um die Wette und sehen sich trotz des Größenunterschieds ähnlich wie ein Ei dem anderen. Unter dem Bild steht in kindlicher Schrift ›Zwei von vier Jahreszeiten – Schneeflöckchen und Sommergarten‹.
Das Ballettforum, von dem Leonie gesprochen hatte, Zoe hatte sich den genauen Namen und Leonies Zugangsdaten notiert, vielleicht würde sich darüber auch noch etwas finden lassen.
»Darf ich mal?« Kalz war um den Schreibtisch herumgekommen, ohne dass Zoe es bemerkt hätte, jetzt zuckt sie leicht zusammen.
»Schlechtes Gewissen?« scherzt er.
Dass ihr »nein, wieso denn?« etwas zu schnell und eine Spur hölzern klingt, überhört er – tatsächlich hofft sie, dass die Simaková nicht ausgerechnet jetzt zurückruft, wenn Kalz in der Nähe ist.
»Ist das Fabian Menzel?«
Kalz deutet auf ein Foto, auf dem vier junge Leute zu sehen sind, außer Sandra, auf diesem Bild bereits mit schwarz gefärbtem Haar, kennt er niemanden darauf.
»Die ganz rechts ist Heike Harms und der Junge zwischen ihr und Sandra ist Moritz Rißmann«, antwortet Zoe, »ich geh davon aus, dass dieser Iro Fabian Menzel ist, zumal auf dem Schlagzeug da Blue Sunshine steht, das war die gemeinsame Band von den vieren.«
»Iro, meinen Sie Irokese, wegen der dämlichen Frisur?«
»Ist gar nicht so leicht, sich die Haare so hinzustylen, Chef. Mein Schwager, Sie wissen schon, der von der Sitte …«
»Ja, schon gut«, unterbricht er sie gereizt, »haben wir eine Adresse von diesem Menzel?«
»Haben wir«, Zoe merkt selbst, dass sie sich für einen Augenblick zu sehr hat gehen lassen. Kalz ist immer noch Kalz, auch wenn er heute fast leutselig, geradezu weichgespült wirkt. Sie reicht ihm den Zettel mit der Adresse, den sie von Heike Harms bekommen hat. »Fabi übernachtet dort ab und zu« hatte Heike dazugeschrieben.
»Ich war vorhin selbst schon kurz dort, war ja sowieso in Gostenhof. Aber das ganze Haus war vollkommen ausgestorben.«
»Haben wahrscheinlich noch gepennt«, knurrt Kalz und schaut auf die Uhr, »gleich zwei. Na, dann werden wir diesem Herrn mal einen Frühstücksbesuch abstatten.« Und mit Blick auf Zoe: »Was machen Sie noch?«
»Ich beschäftige mich noch ein bisschen mit klassischem Ballett.«
Das säuerliche Gesicht ihres Chefs, als dieser das Büro verlässt, bringt sie zum Schmunzeln. Ist aber auch eine komische Vorstellung, sich den Kalz mit lauter bestrumpfhosten Ballettratten vorzustellen – ein Knäckebrot in einem Meer aus Sahnebaiser!
Gerade als sich die Seite des Ballettforums auf dem Monitor aufgebaut hat, klingelt das Telefon. Am anderen Ende ist Ivana Simaková. Halleluja, was für ein Timing!
*
Wäre Fabian Menzel hundert Jahre früher geboren worden, hätte er mit Sicherheit in einer Fabrik gearbeitet, genau wie sein Vater. Er hätte mit neunzehn oder zwanzig geheiratet, hätte einen Haufen Kinder bekommen, hätte mit seiner Familie in einer billigen und viel zu kleinen Arbeiterwohnung gehaust – in Gostenhof oder in der Südstadt –, hätte sich den Buckel krumm geschuftet, um all die Mäuler stopfen zu können, hätte unter der Enge der Behausung und der ständigen Geldnot gelitten und auch mal zugeschlagen, hätte angefangen zu saufen und noch mehr zu schlagen, wäre voll wie eine Haubitze irgendwann an den Falschen geraten, hätte so einstecken müssen, dass an Arbeiten in der Fabrik oder sonst wo nicht mehr zu denken gewesen wäre (was aber nicht weiter auffiele, weil sie ihn eh schon lang vorher gefeuert hätten in der Fabrik) und hätte von der Fürsorge gelebt und
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