Blaulicht
sich eingestehen will.
»Wolfgang Gerlach war also da – und wann war das?«
»Weiß nicht – ist schon ein paar Wochen her.«
»Zwei Wochen? Drei? Vier?«
»Nein, länger. Zwei Monate vielleicht.«
»Und?«
»Angeschleimt hat er mich, wie’s mir denn so geht. Und dann hat er nach Sandra gefragt. Ob’s ihr gut geht, und er macht sich ja solche Sorgen, und ob ich nicht weiß, wo sie ist. Da hab ich zu ihm gesagt, er kann mich mal.«
»Und das war alles?«
»Ich wusste ja wirklich nicht, wo sie steckt. Und wenn ich’s gewusst hätte, hätte ich den Teufel getan, das dem Gerlach auf die Nase zu binden.«
»Sind Sie mal in Pilsen gewesen?«
»Nein.«
»Na schön.« Kalz drückt dem Punk seine Karte in die Hand. »Rufen Sie mich umgehend an, wenn Ihnen noch Personen einfallen, die Kontakt zu Sandra Kovács hatten. Oder gesucht haben.«
Anrufen, denkt Fabian Menzel den Schritten im Treppenhaus hinterher. Bildet der Bulle sich ein, er schafft sich extra wegen ihm ein neues Handy an?
*
Der Zivi versieht seinen Dienst gewissenhaft. Kurz nach Beginn der Nachmittagsschicht ist er auf dem Weg von Zimmer zu Zimmer.
»Kaffee, Herr Gerlach?«
»Ja, gern. – Danke. – Sebastian, würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich. Worum geht’s denn?«
»Ich mache mir Sorgen wegen Sandra.« Gerlach sitzt auf der Bettkante und greift nach dem gefalteten Papier in der Nachttischschublade. »Deshalb habe ich ihr einen Brief geschrieben. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie weiß, dass ich ihr verzeihen kann. Oder was meinst du?«
Seine Augen stechen.
»Doch, bestimmt.«
»Dann könntest du mir doch helfen, indem du ihr meine Botschaft bringst.«
»Herr Gerlach, das geht nicht. Ich hab Ihnen doch gesagt, da ist Tag und Nacht ein Polizist vor ihrer Tür. Die bewachen sie bestimmt immer noch. Und außerdem kann ich doch hier nicht so einfach weg.«
»Da mach dir keine Sorgen.« Gerlach erhebt sich. Der blaue Klinikpyjama ist ihm an Armen und Beinen zu kurz. »Der Arzt hat mir heute ein paar Minuten an der frischen Luft erlaubt. Lies dir den Brief einmal durch, und dann gehen wir nach draußen.«
Sebastian März weiß nicht, dass es ganz bestimmte, fast unmerkliche Anzeichen gibt, ein leichtes Flattern der Augenlider, Kräuseln des Nasenrückens, Absenken der Stimmlage, die ankündigen, dass sich hinter der hohen Stirn etwas zusammenbraut. Andere Schüler am HLH hatten viele Jahre Zeit, diese Merkmale in all ihren Nuancen zu studieren, ohne sie auf dem Pausehof groß zu erwähnen; dort war nur von den vollendeten Tatsachen die Rede, von zerbrochenen Cellobögen oder von mit Fäusten getrommelten Clustern auf dem Bösendorfer, wenn es hieß: »Der Gerlach hat heute gesponnen.« Einmal hatte der Klavierstimmer kommen müssen, was den Gerlach fünfhundert Euro kostete. Sagte man. Und selbst wenn Sebastian März von den Anzeichen wüsste, er würde sie jetzt nicht sehen, denn er ist ganz in den Brief vertieft.
»Und? Was meinst du?«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Gerlach. Vielleicht hat sie ja wirklich nicht gewusst, was sie tat.«
»Ja«, sagt Gerlach, »ja. Das glaube ich auch. Und deswegen ist es wichtig, dass sie die Botschaft bald bekommt. Das könnte ihr helfen.«
»Bestimmt. Aber ich hab keine Ahnung, wie –«
»Du musst ihr doch ganz dringend ein Medikament bringen.«
Der Zivi macht immer noch ein unschlüssiges Gesicht.
»Dafür gibt’s eigentlich die Rohrpost.«
»Sebastian«, sagt Gerlach, und so, wie er es sagt, droht sich der Raum kurzfristig in ein Klassenzimmer zu verwandeln, »Sebastian, du möchtest doch auch, dass es Sandra wieder besser geht – oder?«
Als sie ins Freie treten, schlägt die Sonne mit Wucht zu, und nur ihr ist es zu verdanken, dass die Wetterlage in Gerlachs Kopf jäh umkippt. Wird er jemals wieder eine Tür öffnen und ins Sonnenlicht sehen können, ohne darin eine schwarze Gestalt zu ahnen? Langsam steuern sie eine Bank an. Ein untersetzter Mann in einem breit gestreiften Morgenmantel geht rauchend auf und ab, ohne einen imaginären Bannkreis von etwa drei Metern Radius rund um den Aschenbecher zu überschreiten.
Gerlach lässt sich auf die Bank fallen.
»Sie soll wissen, dass ich ihr nicht mehr böse bin. Also, geh!«
Sebastian macht sich auf den Weg.
Der Dicke hat offenbar die Worte gehört, obwohl Gerlach ihnen keineswegs durch Lautstärke Nachdruck verliehen hat, denn er zwinkert ihm verständnisinnig zu.
»Der Stress mit den Weibern
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