Blausäure
Sie musste blind gewesen sein! Wie konnte man so etwas bei der eigenen Schwester nicht merken!
Aber wer war der Mann?
Sie fing an zu grübeln, versuchte, sich zu erinnern. Es waren so viele Männer um Rosemary herum gewesen, und alle hatten sie bewundert und mit ihr ausgehen wollen. Ständig rief jemand an – an einen besonderen Liebling erinnerte sie sich nicht. Aber es musste ihn gegeben haben – und der große Haufen hatte nur zur Tarnung gedient, um den einen, den Einzigen, zu verbergen. Iris runzelte verwundert die Stirn, während sie ihre Erinnerungen sortierte.
Zwei Namen ragten aus der Menge heraus. Es musste wohl – ja, ganz bestimmt musste es einer von beiden sein. Stephen Farraday? Es musste Stephen Farraday sein. Was konnte Rosemary an ihm gefunden haben? Ein steifer, wichtigtuerischer junger Schnösel – na ja, so jung nun auch wieder nicht. Natürlich hieß es, er sei brillant. Ein Politiker, stark im Kommen, vielleicht bald schon Unterstaatssekretär, mit dem ganzen Gewicht der einflussreichen Kidderminster-Clique im Rücken. Vielleicht ein zukünftiger Premier! War es das, was ihm in Rosemarys Augen Glanz verliehen hatte? Der Mann selbst konnte es ihr doch nicht so angetan haben – so ein kalter, verschlossener Typ? Aber es hieß, seine Frau liebe ihn leidenschaftlich – sie hatte sich über sämtliche Wünsche ihrer mächtigen Familie hinweggesetzt, als sie ihn heiratete – diesen Niemand, der nichts außer politischem Ehrgeiz mitbrachte! Wenn die eine Frau so viel für ihn empfand, konnte es eine andere wohl auch. Ja, es musste Stephen Farraday sein!
Denn wenn es nicht Stephen Farraday war, so war es Anthony Browne.
Und Iris wollte nicht, dass es Anthony Browne war.
Zugegeben, er war Rosemary sklavisch ergeben gewesen, hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, mit einem Ausdruck humorvoller Verzweiflung in seinem dunklen, attraktiven Gesicht. Aber diese Gefühle waren doch viel zu offen zur Schau getragen, um wirkliche Tiefe zu haben?
Merkwürdig, wie er nach Rosemarys Tod abgetaucht war. Niemand von ihnen hatte ihn seitdem gesehen.
Aber vielleicht auch wiederum nicht so merkwürdig – er reiste viel. Er hatte von Argentinien und Kanada gesprochen, von Uganda und den Vereinigten Staaten. Irgendwoher meinte sie zu wissen, dass er Amerikaner oder Kanadier sei, wenngleich er fast akzentfrei sprach. Nein, es war überhaupt nicht seltsam, dass sie ihn seitdem nicht gesehen hatten.
Es war Rosemary gewesen, die mit ihm befreundet gewesen war. Es gab keinen Grund, warum er weiterhin kommen sollte, um die Hinterbliebenen zu sehen. Er war Rosemarys Freund. Aber nicht Rosemarys Geliebter! Sie wollte nun einmal nicht, dass er Rosemarys Geliebter gewesen war. Das täte so weh – schrecklich weh…
Sie sah hinunter, auf den Brief in ihrer Hand. Knüllte ihn zusammen. Würde ihn wegwerfen, verbrennen…
Der pure Instinkt ließ sie innehalten.
Eines Tages konnte es wichtig sein, diesen Brief aus der Tasche zu ziehen…
Sie strich das Papier glatt und nahm den Brief mit nach unten. Zur Sicherheit schloss sie ihn in ihrem Schmuckkasten ein.
Eines Tages konnte es wichtig sein zu zeigen, warum Rosemary sich das Leben genommen hatte.
III
«Sonst noch etwas, die Dame?»
Die alberne Redewendung traf sie wie ein Schlag und nötigte Iris ein gequältes Lächeln ab. Die Frage des wendigen Verkäufers schien haargenau die sorgsam dirigierten Abläufe in ihrem Denkapparat wiederzugeben.
Genau so versuchte sie schließlich selbst, bei ihrer Erinnerungsarbeit vorzugehen! Sie hatte sich den überraschenden Fund auf dem Dachboden vorgenommen. Und jetzt – sonst noch etwas, die Dame? Was kam nun an die Reihe?
Sicher war jetzt George dran, der sich immer merkwürdiger benahm, schon seit längerer Zeit. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten gewesen, die sie befremdeten; nach dem überraschenden Gespräch gestern Abend konnte sie sie nun klarer erkennen. Unzusammenhängende Äußerungen und Taten waren an ihren Platz im Ablauf der Ereignisse gerückt.
Und außerdem das Wiedersehen mit Anthony Browne. Ja, damit sollte sie sich als Nächstes beschäftigen, denn es war genau eine Woche, nachdem sie den Brief gefunden hatte, erfolgt.
Es fiel Iris schwer, sich genau an ihre Empfindungen zu erinnern…
Rosemary war im November gestorben. Im darauf folgenden Mai hatte Iris, unter den Fittichen von Lucilla Drake, damit begonnen, am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Sie hatte sich zum Essen
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