Blausäure
Grund. Warten Sie, ich will Ihnen etwas zeigen.»
Sie lief aus dem Zimmer hinaus und kam kurz darauf zurück, einen zusammengefalteten Brief in der Hand, den sie ihm in die Hand drückte.
«Lesen Sie das. Sehen Sie selbst.»
Er faltete das etwas zerknitterte Papier auseinander.
«Mein liebster Leopard…»
Er las den Brief zwei Mal, bevor er ihn ihr zurückgab.
«Verstehen Sie?», sagte sie eifrig. «Sie war unglücklich – hatte Liebeskummer. Sie wollte nicht mehr leben.»
«Wissen Sie, an wen der Brief gerichtet war?»
Iris nickte.
«Stephen Farraday. Es war nicht Anthony. Sie liebte Stephen, und er behandelte sie grausam. Also nahm sie das Zeug mit ins Restaurant und trank es dort mit ihrem Champagner, damit er sie sterben sah. Vielleicht hoffte sie, dass es ihm dann Leid tun würde.»
Race nickte nachdenklich, sagte aber nichts. Nach kurzem Schweigen fragte er:
«Wann haben Sie diesen Brief gefunden?»
«Ungefähr vor sechs Monaten. Er war in der Tasche eines alten Morgenmantels.»
«Und Sie haben ihn George nicht gezeigt?»
«Wie hätte ich das tun können?», rief Iris leidenschaftlich. «Wie denn? Rosemary war meine Schwester. Wie hätte ich sie an George verraten können? Er glaubte so sicher an ihre Liebe. Wie hätte ich ihm dieses zeigen können, nachdem sie tot war? Er hat es alles falsch verstanden, aber ich konnte ihm das doch nicht sagen. Aber jetzt möchte ich wissen, was ich jetzt tun soll? Ich habe Ihnen den Brief gezeigt, weil Sie Georges Freund waren. Muss Inspektor Kemp ihn auch sehen?»
«Ja. Kemp muss den Brief haben. Er ist ein Beweisstück, verstehen Sie?»
«Aber dann wird er – wird er bei der Gerichtsverhandlung vorgelesen?»
«Nicht unbedingt. Das ist nicht gesagt. Es ist Georges Tod, der geklärt werden muss. Es wird nichts an die Öffentlichkeit gelangen, das nicht wirklich relevant ist. Am besten, Sie geben mir den Brief jetzt gleich mit.»
«Einverstanden.»
Sie begleitete ihn an die Haustür. Als er hinausging, sagte sie unvermittelt:
«Es beweist doch klipp und klar, dass Rosemarys Tod wirklich ein Selbstmord war?»
«Es zeigt auf jeden Fall, dass sie ein Motiv für Selbstmord hatte», sagte Race.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Er ging die Treppe hinunter. Als er sich umdrehte, sah er sie wie eingerahmt an der offenen Tür stehen. Sie sah ihm nach, wie er fortging und den Platz überquerte.
Sieben
M ary Rees-Talbot begrüßte Race mit einem entzückten Schrei des Unglaubens.
«Mein Lieber, ich habe dich seit deinem mysteriösen Verschwinden damals aus Allahabad nicht mehr gesehen! Und warum kommst du jetzt? Natürlich nicht, um mich zu sehen, so viel steht fest. Anstandsbesuche sind nicht deine Sache. Also los, raus damit, spar dir die Diplomatie!»
«Bei dir wären diplomatische Methoden reine Zeitverschwendung, Mary. Und du weißt ja, wie sehr ich deinen röntgenscharfen Verstand schätze.»
«Hör auf mit dem Gesülze und komm in die Steigbügel, mein Lieber.»
Race lächelte.
«War das eben Betty Archdale, die mich reingelassen hat?», fragte er.
«Also darum geht es! Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass dieses Mädchen, das mit reinstem Themsewasser gewaschen ist und Cockney durch und durch, in Wirklichkeit eine berühmte europäische Spionin sein soll, denn das glaube ich einfach nicht.»
«Nein, nein, nichts dergleichen.»
«Und erzähl mir auch nicht, dass sie zu unserer Gegenspionage gehört, denn das glaube ich auch nicht.»
«Du hast Recht. Das Mädchen ist ein ganz normales Stubenmädchen.»
«Und seit wann interessierst du dich für ganz normale Stubenmädchen – nicht, dass Betty ganz normal wäre – eher eine ziemlich listige Drückebergerin.»
«Ich denke, sie hätte mir vielleicht etwas Interessantes zu erzählen.»
«Wenn du sie lieb darum bittest? Es würde mich nicht wundern, wenn du Recht hättest. Sie beherrscht die Ohren-an-dieTür-Nase-unters-Schlüsselloch-Technik ziemlich gut, wenn etwas Interessantes los ist. Was soll M. nun machen?»
«M. bietet mir sehr freundlich etwas zu trinken an und klingelt nach Betty und bittet sie darum.»
«Und wenn Betty das Getränk bringt?»
«Dann hat sich M. liebenswürdigerweise längst zurückgezogen.»
«Um ihrerseits draußen an der Tür zu horchen?»
«Wenn ihr das Spaß macht.»
«Und hinterher platze ich vor lauter Geheiminformationen über die jüngste Krise Europas?»
«Leider nicht. Es geht in diesem Fall nicht um Politik.»
«Welch eine Enttäuschung! Na
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