Blausäure
Barton geschrieben?»
Sie starrte ihn an. Er konnte keine Verlegenheit oder Schuldgefühle entdecken – nichts als schieres Erstaunen.
«Ich? An Mr Barton schreiben? Nein, niemals.»
«Sie müssen keine Angst haben, es mir zu erzählen. Es war eine sehr gute Idee. Für ihn war es eine Warnung, ohne dass Sie sich zu erkennen geben brauchten. Wirklich sehr schlau von Ihnen.»
«Aber ich war es nicht, gnädiger Herr. An so etwas habe ich nie gedacht. Sie meinen, Briefe an Mr Barton, in denen stand, dass seine Frau umgebracht wurde? Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen!»
Sie leugnete so ernsthaft, dass Race gegen seinen Willen schwankend wurde. Dabei passte alles so gut zusammen – ließ sich so plausibel erklären –, wenn das Mädchen die Briefe geschrieben hatte. Aber sie blieb hartnäckig bei der einmal gegebenen Antwort, und das, ohne heftig oder verlegen zu werden, sondern ruhig und nüchtern. Widerwillig musste er ihr Glauben schenken.
Er wechselte seine Methode.
«Wem haben Sie davon erzählt?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Niemandem. Ich sag’s Ihnen ganz ehrlich, gnädiger Herr, ich hatte Angst. Also hab ich gedacht, ich halte besser den Mund. Hab versucht, es zu vergessen. Nur einmal habe ich darauf angespielt – als ich bei Mrs Drake kündigte – sie hatte furchtbar geschimpft, es war nicht mehr auszuhalten, und dann sollte ich auch noch mit ihnen aufs Land rausfahren, irgendwohin, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen – nicht einmal eine Busverbindung! Und dann wurde sie gemein wegen meiner Referenzen, ich hätte Dinge zerbrochen, und ich sagte – so auf die sarkastische Tour – ich hoffte, bei meiner nächsten Stellung nicht wieder in einem Haus zu landen, in dem die Leute umgelegt würden! Und ich bekam Angst, als ich es gesagt habe, aber sie hat gar nicht richtig hingehört. Vielleicht hätte ich da etwas verraten sollen, aber ich konnte es irgendwie nicht. Vielleicht war das Ganze ja auch nur ein Witz, meine ich. Man sagt doch alles Mögliche im Spaß, und Mr Browne war so sympathisch und auch immer zu Scherzen aufgelegt, ich konnte es also nicht verraten, nicht wahr, gnädiger Herr?»
Nachdem Race ihr Recht gegeben hatte, fuhr er fort:
«Mrs Barton sprach davon, dass Browne nicht sein richtiger Name sei. Hat sie denn den richtigen Namen erwähnt?»
«Ja, das hat sie. Denn er sagte: ‹Vergiss Tony› – was war es doch gleich? Tony Soundso… Der Name erinnerte mich an die Kirschkonfitüre, die die Köchin gerade eingekocht hatte.»
«Tony Cheriton? Cherable?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Irgendwie ausgefallener. Fing mit einem M an. Und klang ausländisch.»
«Machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht fällt es Ihnen wieder ein. Dann lassen Sie es mich bitte wissen. Hier ist meine Karte mit meiner Adresse. Wenn Ihnen der Name einfällt, schreiben Sie mir an diese Adresse.»
Er reichte ihr die Visitenkarte zusammen mit einer Banknote.
«Das werde ich bestimmt, gnädiger Herr, danke schön, gnädiger Herr.»
Ein Gentleman, dachte sie, als sie die Treppen hinuntereilte. Eine Pfundnote, nicht zehn Schilling. Was mussten das für Zeiten gewesen sein, als es noch goldene Sovereigns gab…
Mary Rees-Talbot kehrte ins Zimmer zurück.
«Nun, erfolgreich?»
«Ja, aber es gibt noch ein Hindernis zu überwinden. Vielleicht kann dein Scharfsinn mir weiterhelfen? Kennst du einen Nachnamen, der dich an eine Kirschkonfitüre erinnert?»
«Was für eine absonderliche Frage!»
«Denk nach, Mary. Ich verstehe nichts von Hauswirtschaft. Konzentriere dich aufs Einkochen, speziell auf Kirschkonfitüre.»
«Man macht nicht so oft Kirschkonfitüre.»
«Warum nicht?»
«Nun, sie wird leicht zu süß – es sei denn, du nimmst Sauerkirschen, Morellen.»
Race stieß einen Schrei aus.
«Das ist es – ich wette, das ist es! Auf Wiedersehen, Mary! Ich bin dir unendlich dankbar. Hast du etwas dagegen, wenn ich nach dem Mädchen klingele, damit sie mich zur Tür bringt?»
Als er aus dem Zimmer stürzte, rief Mrs Rees-Talbot hinter ihm her:
«Von allen undankbaren Gesellen… Willst du mir nicht wenigstens verraten, worum es geht?»
«Ich komme später wieder und erzähle dir die ganze Geschichte!», rief er zurück.
«Klaubstu», nuschelte Mrs Rees-Talbot.
Unten wartete Betty und hielt Race Hut und Spazierstock hin. Er dankte ihr und ging hinaus. Auf der Schwelle blieb er stehen.
«Übrigens», sagte er, «war der Name Morelli?»
Bettys Gesicht leuchtete auf.
«Ganz richtig,
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