Blausäure
verpflichtet wäre, es in ihrem Arbeitszeugnis zu erwähnen – man hat doch wirklich eine Pflicht, nicht wahr, Colonel Race? Ich meine, man darf nichts Irreführendes schreiben. Fehler sollten genauso erwähnt werden wie gute Eigenschaften. Aber das Mädchen war – wirklich – nun, ziemlich unverschämt und sagte patzig, sie hoffe, bei ihrer nächsten Stellung nicht wieder in einem Haus zu landen, in dem die Leute umgelegt würden – ein schrecklich vulgäres Wort, ich nehme an, sie hat es im Kino gehört, und unpassend, dass es zum Himmel schreit, da die arme Rosemary ja selbst Hand an sich legte – obwohl sie zu jenem Zeitpunkt für ihre Taten nicht verantwortlich war, worauf der Untersuchungsrichter sehr richtig hingewiesen hat – und dieses schreckliche Wort bezieht sich, meiner Kenntnis nach, auf Gangster, die sich gegenseitig mit Maschinenpistolen erschießen. Ich bin so dankbar, dass dergleichen in England nicht vorkommt. Und deswegen habe ich in ihr Zeugnis geschrieben, dass Betty Archdale ihre Pflichten als Stubenmädchen gründlich versah und sachlich und ehrlich war, aber dass ihr zu viel zu Bruch ginge und sie gelegentlich den nötigen Respekt vermissen ließe. Und wenn ich persönlich Mrs Rees-Talbot gewesen wäre, dann hätte ich zwischen den Zeilen gelesen und sie nicht eingestellt. Aber heutzutage müssen die Leute ja nehmen, was sie kriegen, und wenn es ein Mädchen ist, das nur einen Monat lang in drei verschiedenen Häusern gearbeitet hat.»
Während Mrs Drake Luft holte, fragte Colonel Race schnell, ob die Rede von Mrs Richard Rees-Talbot sei? Dann kenne er sie nämlich aus Indien.
«Das weiß ich wirklich nicht. Die Adresse war Cadogan Square.»
«Dann sind es tatsächlich meine Freunde.»
Wie klein die Welt doch sei, nicht wahr, meinte Lucilla. Und dass nichts über alte Freundschaft gehe. Was für eine wundervolle Sache Freundschaft überhaupt sei. Besonders die Freundschaft von Viola und Paul habe sie immer so romantisch gefunden. Die liebe Viola, was war sie für ein reizendes Mädchen gewesen, und wie viele Männer waren in sie verliebt, aber, du liebe Güte, Colonel Race wusste wohl gar nicht, wovon sie sprach. Man lebte zu stark in der Vergangenheit.
Colonel Race bat sie fortzufahren und bekam zum Dank für seine Höflichkeit die Lebensgeschichte von Hector Marie vorgesetzt, wie seine Schwester ihn großgezogen hatte, seine Eigenarten und Schwächen und schließlich, als Colonel Race Viola schon fast vergessen hatte, Hectors Heirat mit der schönen Viola.
«Sie war ein Waisenkind, wissen Sie, ein Mündel unter Amtsvormundschaft.»
Er hörte, wie Paul Bennett seine Enttäuschung über Violas Korb überwand und vom Liebhaber zum Freund der Familie gereift war, er hörte von dessen Liebe zu seinem Patenkind Rosemary und von seinem Tod und seinen testamentarischen Verfügungen.
«Ich habe das immer so romantisch gefunden – so ein großes Vermögen! Nicht, dass Geld alles bedeutet – ganz und gar nicht! Man muss ja nur an den tragischen Tod der armen Rosemary denken. Und auch die liebe Iris macht mir etwas Kummer.»
Race sah sie fragend an.
«Die Verantwortung ist so groß. Es ist allgemein bekannt, dass sie ein großes Vermögen geerbt hat. Natürlich gebe ich Acht, was den unerfreulichen jungen Mann angeht, aber was soll man machen, Colonel Race? Man kann heutzutage nicht mehr so auf junge Mädchen aufpassen, wie es zu meiner Zeit üblich war. Iris hat Freunde, über die ich so gut wie gar nichts weiß. ‹Lade sie doch zu uns ein, Kind›, sage ich immer – aber einige von diesen jungen Männern lassen sich einfach nicht blicken. Der arme George hat sich deswegen auch Sorgen gemacht. Da ist ein junger Mann namens Browne. Ich persönlich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, aber es scheint, als ob er und Iris sich ziemlich oft sehen. Und man hat natürlich den Eindruck, dass sie etwas Besseres finden könnte. George mochte ihn nicht – so viel steht fest. Und ich finde ja immer, Colonel Race, dass Männer einander so viel besser beurteilen können. Ich erinnere mich, dass ich Colonel Pusey, einen unserer Kirchenvorsteher, immer für so einen netten Mann hielt, aber mein Mann blieb ihm gegenüber stets reserviert und hieß mich, es ihm gleichzutun – und was passierte – eines Sonntags, als er die Kollekte einsammelte, da ging er zu Boden – anscheinend vollständig alkoholisiert. Und hinterher – diese Dinge hört man immer erst hinterher, dabei wäre es so viel besser,
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