Bleakhouse
Diese Unfälle gaben den Zeitungen Stoff und füllten ein paar Betten im nächsten Hospital. Die entstandenen Höhlen aber bleiben, und diese Wohnungen im Schutt sind nicht unbeliebt. Da mehrere andere Häuser ebenfalls dicht vor dem Einsturz stehen, so wird der nächste Krach in »Toms Einöd« voraussichtlich kolonisatorisch – sehr günstig wirken.
Diese prächtige Besitzung steht natürlich unter Sequester des Kanzleigerichts. Es wäre eine Beleidigung für den Scharfsinn eines Mannes, selbst mit nur einem halben Auge, das erst sagen zu müssen. Ob Tom – von »Toms Einöd« – der vom Volksmund erschaffene Repräsentant des ursprünglichen Klägers oder Beklagten in »Jarndyce kontra Jarndyce« ist oder ob Tom »wirklich ganz allein« hier wohnte, als der Prozeß die Straße verödete, bis andre Ansiedler ihm Gesellschaft zu leisten anfingen, oder ob die traditionelle Benennung ein Sammelname für einen Zufluchtsort ist, der von ehrenwerter Gesellschaft abgeschnitten und aus dem Bereich der Hoffnung gewiesen ist, weiß vielleicht niemand. Jo weiß es keinesfalls.
»Wos weiß denn i«, sagt Jo.
Es muß ein seltsamer Zustand sein, in Jos Haut zu stecken. Durch die Straßen zu schlottern, ohne die geheimnisvollen Symbole nur im Entferntesten zu begreifen, die über den Läden, an den Straßenecken und an Türen und Fenstern so häufig angebracht sind! Leute lesen zu sehen und Leute schreiben zu sehen, den Postboten Briefe abgeben zu sehen, ohne den mindesten Begriff von dieser Sache zu haben, dem kleinsten Schnörkel gegenüber stockblind und – taub zu sein. Wie merkwürdig, die anständigen Leute sonntags in die Kirche gehen zu sehen, die Gebetbücher in der Hand, und zu denken (vielleicht denkt Jo doch so hie und da einmal), was das wohl alles bedeuten möge. Und wenn es für jemanden etwas bedeutet, warum es für ihn nichts bedeutet. Herumgestoßen und vom Polizeimann verjagt zu werden und einzusehen, daß es vollkommen wahr zu sein scheint, daß man hier oder dort oder irgendwo anders nichts zu schaffen hat, und doch von dem Eindruck geplagt zu werden, trotzdem hier zu sein, von jedermann übersehen, bis man das Geschöpf geworden, das man jetzt ist.
Es muß ein seltsamer Zustand sein, nicht bloß hören zu müssen, daß man kaum ein menschliches Wesen ist – wie im Fall der Zeugniseinvernahme –, sondern es selbst einzusehen. Die Pferde, die Hunde und das Vieh vorübergehen zu sehen und zu begreifen, daß man an Unwissenheit zu ihnen gehört und nicht zu den höheren Wesen von gleicher menschlicher Gestalt, deren Gefühle man immer und überall verletzt.
Jos Ansichten von einem Kriminalprozeß oder einem Richter oder einem Bischof oder einer Regierung oder von dem für ihn so unschätzbaren Juwel, der Verfassung, müssen seltsam sein. Sein ganzes körperliches und geistiges Leben ist wunderbar seltsam. Sein Tod das Seltsamste von allem.
Jo verläßt »Toms Einöd« mit dem säumigen Morgen, der sich hierher immer verspätet, und kaut unterwegs sein schmutziges Stück Brot. Da er durch viele Straßen zu gehen hat und die Häuser noch nicht offen sind, setzt er sich zum Frühstück auf die Türschwelle der »Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums im Ausland« und fährt mit dem Besen, wenn er fertig ist, zum Dank für die gewährte Gastfreundschaft darüber. Er bewundert die Größe des Gebäudes und fragt sich, wozu es da ist. Der arme Teufel hat keine Ahnung von der religiösen Rückständigkeit eines Korallenriffs im Stillen Ozean oder was es kostet, die frommen Seelen unter den Kokosnußpalmen und den Brotfruchtbäumen zu hüten. Er nimmt seinen Posten an seinem Straßenübergang ein und fängt an, ihn für den Tag frei zu kehren. Die Stadt erwacht, das große Ringelspiel beginnt sein tägliches Drehen und Wirbeln, all das unerklärliche Lesen und Schreiben, daß ein paar Stunden lang aufgehört hat, setzt von neuem an.
Jo und die anderen niedern Geschöpfe helfen sich durch den unverständlichen Wirrwarr, so gut sie können. Es ist Markttag. Die geblendeten Ochsen, grausam gestachelt und abgehetzt und nie geleitet, rennen hin, wohin sie nicht gehören, werden mit Knütteln wieder fortgetrieben und rennen mit rotglühenden Augen und Schaum vor dem Maul gegen steinerne Mauern, verletzen Unschuldige und verletzen sich selbst schwer. Ganz so wie Jo und seinesgleichen. Ganz genau so.
Eine Musikbande kommt und spielt. Jo hört zu. Dasselbe tut ein Hund – eines Viehtreibers Hund, der
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