Bleakhouse
hervorgetreten. Sie stand hinter meinem Stuhl und hatte die Hand auf die Lehne gelegt. Ich sah ihre Hand ganz dicht an meiner Schulter, als ich mich umdrehte.
»Ich habe Sie erschreckt?« sagte sie.
Nein. Ich war nicht erschrocken. Warum hätte ich auch erschrecken sollen.
»Ich glaube«, wendete sich Lady Dedlock zu meinem Vormund, »ich habe das Vergnügen mit Mr. Jarndyce.«
»Ihr Gedächtnis erweist mir mehr Ehre, als ich hätte vermuten dürfen, Lady Dedlock«, entgegnete er.
»Ich erkannte Sie am Sonntag in der Kirche. Es tut mir leid, daß Streitigkeiten Sir Leicesters – sie sind, ich glaube, nicht von ihm ausgegangen – es so lächerlich schwierig machen, Ihnen hier unsre Gastfreundschaft anbieten zu können.«
»Ich bin in die Verhältnisse eingeweiht«, antwortete mein Vormund mit einem Lächeln, »und ich fühle mich auch ohne dies verpflichtet.«
Sie hatte ihm in einer gewissen kühlen Gleichgültigkeit, die ihr Gewohnheit geworden zu sein schien, die Hand gereicht und sprach in einem ebensolchen Ton, obgleich ihre Stimme etwas außerordentlich Gewinnendes hatte. Sie war ebenso anmutig wie schön, ungemein sicher und sah aus, wie ich mir dachte, als könnte sie das Herz jedes Menschen gefangen nehmen, wenn sie es der Mühe wert halte.
Der Parkhüter brachte ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich in die Mitte des Eingangs zwischen uns.
»Haben Sie den jungen Herrn untergebracht, von dem Sie uns schrieben, dessen Wünsche in irgendeiner Weise zu fördern aber leider nicht in Sir Leicesters Macht stand?« fragte sie über die Schulter meinen Vormund.
»Ich hoffe ja.«
– Sie schien eine hohe Meinung von Mr. Jarndyce zu haben und zu wünschen, mit ihm auf gutem Fuß zu stehen. Es lag etwas sehr Gewinnendes in ihrem stolzen Wesen, und sie wurde vertraulicher – besser gesagt, unbefangener, wenn das überhaupt noch möglich war, wie sie mit ihm über ihre Schulter hinüber sprach. –
»Ich vermute, dies ist Ihr anderes Mündel, Miß Clare?«
Er stellte ihr Ada vor.
»Man wird Ihnen trotz Ihres Don-Quichote-Charakters Ihre Uneigennützigkeit nicht mehr glauben, wenn Sie nur Schönheiten unter Ihren Schutz nehmen. Aber stellen Sie mich auch dieser jungen Dame vor«, sagte sie und sah mir voll ins Gesicht.
»Miß Summerson ist wirklich mein Mündel«, erklärte Mr. Jarndyce. »Für sie bin ich beim Lordkanzler verantwortlich.«
»Hat Miß Summerson ihre beiden Eltern verloren?«
»Ja.«
»Sie hat es sehr gut mit der Wahl ihres Vormunds getroffen.«
Lady Dedlock sah mich an, und ich stimmte ihr bei, daß das allerdings in ganz hervorragender Weise der Fall sei. Plötzlich wendete sie sich mit einer Hast von mir ab, die fast wie Abneigung oder Mißfallen aussah, und sprach wieder mit ihm über die Achsel.
»Jahre sind vergangen, seit wir zusammengekommen sind, Mr. Jarndyce.«
»Eine sehr lange Zeit. Wenigstens glaubte ich, es sei lange her, bis ich Sie vorigen Sonntag sah.«
»Was, selbst Sie sind ein Schmeichler oder halten es für notwendig, mir gegenüber einer zu werden«, sagte sie mit leichter Geringschätzung. »Einen solchen Ruf habe ich mir erworben?«
»Sie haben soviel erworben, Lady Dedlock«, sagte mein Vormund, »daß Sie wohl eine kleine Strafe bezahlen müssen. Wenn auch nicht mir.«
»Soviel!« wiederholte sie leise lachend. »Ja!« In ihrer Überlegenheit und Macht und Faszinationsgabe und, ich weiß nicht, was alles, schien sie in Ada und mir wenig mehr als Kinder zu sehen. Wie sie leise lachte und dann nachdenklich in den Regen hinausschaute, war sie so unbefangen und sicher und hing ihren Gedanken so ungeniert nach, als ob sie allein wäre.
»Ich glaube, Sie kannten meine Schwester besser als mich, als wir zusammen im Ausland waren?« fragte sie und blickte wieder auf.
»Ja, wir trafen uns öfter.«
»Wir sind unsre eignen Wege gegangen«, sagte Lady Dedlock, »und hatten selbst, ehe wir noch uneins zu werden für gut fanden, wenig miteinander gemein. Es ist bedauerlich, aber es konnte nicht anders sein.«
Wieder sah sie in den Regen hinaus. Das Gewitter zog schnell vorüber. Der Regenschauer ließ stark nach, das Blitzen hörte auf, der Donner rollte in der Ferne über den Hügeln, und die Sonne fing an, auf die nassen Blätter und den dünn rieselnden Regen zu glitzern.
Während wir schweigend dasaßen, sahen wir einen kleinen Pony-Phaethon in munterm Trab auf uns zufahren.
»Der Bote kommt mit dem Wagen zurück, Mylady«, meldete der
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