Bleakhouse
empfindsamste Gemüt nicht verletzen können.
Über der ganzen juristischen Nachbarschaft hängt wie ein großer Schleier von Rost oder eine riesenhafte Spinnwebe das Nichtstun und die Traumstimmung der Gerichtsferien. Auch Mr. Snagsby, der Schreibmaterialienhändler in Cook's Court, Cursitor Street, empfindet diesen Einfluß. Nicht nur als mitfühlender und versonnener Mann, sondern auch hinsichtlich seiner Geschäftstätigkeit. Er hat während der Gerichtsferien mehr Muße, in Staple-Inn und Rolls-Yard zu träumen, als zu andern Zeiten und bemerkt gelegentlich zu den beiden »Stiften«, wie schön es sei, bei so heißem Wetter sich vorzustellen, daß man auf einer Insel, vom Meere umwogt und umtost, lebe.
Guster hat an diesem Nachmittag sehr viel zu tun, denn Mr. und Mrs. Snagsby erwarten Gäste. Die geladene Gesellschaft ist nicht so sehr zahlreich als gewählt, denn sie besteht aus Mr. und Mrs. Chadband und sonst niemandem.
Da Mr. Chadband sich sowohl im Gespräch als in Briefen gern ein »Gefäß« nennt, halten ihn zuweilen Leute, die ihn nicht kennen, für einen Herrn, der mit Wasserleitungen zu tun hat. Er ist aber, wie er sich ausdrückt, »in der Seelsorge tätig«. Mr. Chadband gehört keiner besondern Sekte an, aber er hat Jünger, und Mrs. Snagsby zählt zu ihnen. Mrs. Snagsby hat sich erst vor kurzem bei Mr. Chadband eingeschrieben. Dieses Gefäß zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als die Sommerhitze sie ein wenig aufgeregt hatte.
»Meine kleine Frau«, sagt Mr. Snagsby zu den Spatzen in Staple-Inn, »liebt die Religion gern ein wenig gepfeffert, müßt ihr wissen.«
Deshalb richtet Guster, sehr erbaut von dem Gedanken, heute die fromme Magd Chadbands sein zu dürfen, von dem sie weiß, daß er die Gabe hat, vier Stunden lang in einem Zug predigen zu können, das kleine Staatszimmer zum Tee her. Die Möbel sind ausgeklopft und abgestaubt, die Porträts Mr. und Mrs. Snagsbys mit einem feuchten Tuch aufgefrischt, das beste Teeservice steht auf dem Tisch und neben ihm schmackhaftes frisches Brot, kalte frische Butter, dünn geschnittener Schinken, Zunge und Gothaer Wurst, und köstliche kleine Reihen von Anchovis ruhen in Petersilie. Ganz zu schweigen von den frisch gelegten Eiern, die warm in einer Serviette heraufgebracht werden sollen, und dem warmen, butterbestrichnen Zwieback. Denn Chadband ist ein geräumiges Gefäß – seine Feinde sagen, ein Schlund von einem Gefäß –, und er weiß mit den Waffen des Fleisches, wie es Messer und Gabel sind, merkwürdig gut umzugehen.
Mr. Snagsby hat seinen besten Rock an, überblickt noch einmal alle Vorbereitungen, als sie fertig sind, und sagt nach einem bescheidenen Hüsteln hinter der Hand zu Mrs. Snagsby:
»Wann erwartest du Mr. und Mrs. Chadband, meine Liebe?«
»Um sechs.«
Mr. Snagsby äußert leichthin und äußerst milde, daß es schon sechs Uhr vorbei sei.
»Möchtest du vielleicht ohne sie anfangen?« fragt Mrs. Snagsby vorwurfsvoll.
Mr. Snagsby sieht aus, als ob er das allerdings gern möchte, aber er sagt bloß mit seinem sanftmütigen Hüsteln:
»Nein, meine Liebe, nein. Ich erwähnte es nur so.«
»Was ist Zeit gegen die Ewigkeit«, seufzt Mrs. Snagsby.
»Sehr wahr, meine Liebe«, gibt Mr. Snagsby zu. »Nur wenn jemand Speisen für einen Tee bereit hält, denkt er dabei – vielleicht – mehr – an die Zeit. Und wenn schon eine Zeit zum Tee festgesetzt ist, so sollte man auch pünktlich antreten.«
»Antreten!« wiederholt Mrs. Snagsby mit Strenge. »Antreten! Als ob Mr. Chadband ein Preisboxer wäre!«
»O, so habe ich es nicht gemeint, meine Liebe«, entschuldigt sich Mr. Snagsby.
Guster, die zum Fenster des Schlafzimmers hinausgesehen hat, kommt plötzlich die Treppe heruntergepoltert wie das Gespenst aus dem Volksmärchen, stürzt mit rotem Gesicht in das Staatszimmer und meldet, daß Mr. und Mrs. Chadband in Sicht seien. Da gleich darauf die Klingel an der innern Tür im Gang ertönt, wird Guster von Mrs. Snagsby streng ermahnt, bei sonstiger augenblicklicher Entlassung die Zeremonie des Anmeldens nicht zu versäumen. Durch diese Drohung ganz außer Fassung gebracht, verstümmelt sie die Zeremonie derart, daß sie meldet: »Mr. und Mrs. Cheeseming, oder so heißens«, und verschwindet dann mit Gewissensbissen.
Mr. Chadband ist ein großer gelber Mann mit einem fetten Lächeln und sieht aus, als flösse Tran in seinen Adern. Mrs. Chadband ist eine finstere, strengblickende, schweigsame Frau.
Mr. Chadband bewegt sich
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