Bleakhouse
einem Gesicht, so klein, daß man kaum etwas andres als den Mützenbesatz sehen konnte. Seine kleinen magern langfingerigen Händchen hielt es beständig unter dem Kinn zusammengeballt. In dieser Stellung pflegte es nämlich den ganzen Tag dazuliegen, die hellen Äugelchen weit offen und offenbar ganz verwundert, warum es so klein und schwach war. Nur wenn man es nahm, schrie es, aber zu allen andern Zeiten war es so geduldig, daß es der einzige Wunsch seines Lebens zu sein schien, still zu liegen und nachzudenken. Es hatte seltsame tiefblaue kleine Äderchen im Gesicht und merkwürdige dunkle Flecken unter den Augen, die aussahen wie Erinnerungszeichen an Caddys Tintenklecksepoche, und alles in allem bot es für Fremde oder Unbeteiligte einen recht kläglichen Anblick.
Aber Caddy war offenbar daran gewöhnt. Ihre Pläne und Gedanken über der kleinen Esther Erziehung und deren künftige Heirat, mit denen sie sich die Stunden ihres Krankenlagers verkürzte und sich zuweilen bis in die ferne Zukunft verstieg, wo sie erst Großmutter sein würde, sprachen so hübsch von ihrer Liebe und Hingebung zu diesem Stolz ihres Lebens, daß ich gerne noch mehr davon erzählen würde, wenn ich nicht fürchten müßte, mich dabei allzu sehr aufzuhalten.
Um also wieder auf den Brief zurückzukommen. Caddy frönte in bezug auf mich einem Aberglauben, der sich von jenem längst vergangnen Abend, wo sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß eingeschlummert war, herleitete und im Lauf der Zeit immer stärker geworden war. Sie bildete sich nämlich ein, daß ihr meine Nähe gut täte. Natürlich war das nur eine Grille des guten Kindes, die zu erwähnen ich mich fast schäme, der ich aber, wo sie jetzt wirklich krank war, jedenfalls Rechnung tragen mußte. Deshalb fuhr ich mit meines Vormunds Einwilligung bereits mit der nächsten Post zu ihr, und sie und Prince empfingen mich mit einer Überschwenglichkeit, die wirklich schon jedes Maß überstieg.
Den Tag darauf besuchte ich sie abermals, und den nächsten Tag wieder.
Es war durchaus keine beschwerliche Reise, und ich brauchte nur früh etwas zeitiger aufzustehen, um meine Rechnungen in Ordnung zu bringen und die Wirtschaftsangelegenheiten vorzubereiten, ehe ich mich auf den Weg machte; aber nach dem dritten Besuch sagte mein Vormund zu mir, als ich abends zurückkehrte:
»Nein, kleines Frauchen, das geht so nicht weiter. Steter Tropfen höhlt den Stein, und wenn Mütterchen Spinnweb immer so hin und her fahren wollte, würde sie das schließlich sehr angreifen. Wir müssen auf einige Zeit nach London gehen und unsre alte Wohnung wieder beziehen.«
»Bitte, nicht meinetwegen, lieber Vormund«, sagte ich. »Es ermüdet mich gar nicht« – das war auch wirklich der Fall – »und ich fühle mich so glücklich, daß man meiner bedarf.«
»Also dann meinetwegen und Adas wegen. – Morgen ist übrigens, wenn ich nicht irre, irgend jemandes Geburtstag.«
»Es kommt mir wahrhaftig auch so vor.« – Ich küßte meinen Liebling, der morgen einundzwanzig Jahre alt wurde.
»Ja, das ist ein wichtiger Tag«, sagte mein Vormund halb scherzend, halb ernst, »und meine schöne Kusine wird allerhand Wege haben, weil sie volljährig wird. Schon deswegen müssen wir nach London. Das wäre also abgemacht. Sag mal, wie geht es übrigens Caddy?«
»Nicht besonders, Vormund. Ich fürchte, es wird immerhin einige Zeit dauern, ehe sie wieder zu Kräften kommt.«
»Was nennst du einige Zeit?« fragte mein Vormund nachdenklich.
»Einige Wochen, fürchte ich.«
»So, so!« Er schien sich dasselbe gedacht zu haben. »Was meinst du über ihren Arzt? Ist er gut und verläßlich, mein Kind?«
Ich sagte, daß man sich in keiner Hinsicht über ihn beklagen könne, aber Prince und ich hätten heute abend davon gesprochen, sein Urteil noch von einem andern bestätigen zu lassen.
»Da wäre doch Woodcourt am besten«, entgegnete mein Vormund rasch.
Ich hatte gar nicht an ihn gedacht und war daher ein wenig überrascht. Einen Augenblick schienen alle Gedanken, die ich mir je über Mr. Woodcourt gemacht hatte, in meiner Erinnerung aufzuwachen und mich zu verwirren.
»Hast du vielleicht etwas gegen ihn einzuwenden, kleines Frauchen?«
»Etwas gegen ihn einzuwenden? Gewiß nicht.«
»Und du glaubst nicht, daß die Kranke dagegen wäre?«
Ich bezweifelte nicht im geringsten, daß sie großes Vertrauen zu ihm haben und er ihr sehr gut gefallen würde. Sie kenne ihn übrigens persönlich und habe ihn oft
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