Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
sich schnell. Das waren keine Häuser, sondern so etwas wie Lagerhallen. Also lief sie in die einzige Richtung, in der kein Gebäude stand, und erreichte schnell die Teerstraße, von der sie vorhin abgebogen waren. Dank der Schneereste und des immer wieder hervorbrechenden Mondes konnte sie einigermaßen sehen. Sie befand sich auf einer Anhöhe. Irgendwo dort vorn, in einer schwer einzuschätzenden Entfernung, schwebten winzige Lichter in der Dunkelheit.
Dorthin musste sie!
Lichter bedeuteten Leben!
Nach ein paar Minuten bog sie von der Teerstraße auf einen Schotterweg ab, weil die Lichter sich nach links verschoben. Der Weg wurde schnell schmaler und führte als Trampelpfad in ein tiefer gelegenes Waldstück.
Miriam blieb stehen. Sie war außer Atem, aber längst nicht am Ende ihrer Kraft. Dafür war sie viel zu gut trainiert. Was sie jetzt tat, entsprach nicht Cems Anweisungen. Wenn man sich für die Flucht entschieden hatte, sollte man auch flüchten, und zwar, ohne zu stoppen und ohne sich umzusehen. Nur laufen, so schnell man konnte, dabei ein Ziel anvisieren, möglichst belebte Plätze oder zumindest eine befahrene Straße.
Aber so etwas gab es hier draußen nicht.
Miriam drehte sich im Kreis.
Wohin?
Sie entschied sich für den Wald. Nicht nur, weil sie sich darin besser verstecken konnte, sondern auch weil auf dessen anderer Seite die Lichter lagen. Ein kleines Dorf, ein Gehöft vielleicht, völlig egal, solange dort Menschen lebten, die ihr helfen würden.
Die Sporthose aus schwarzem Funktionsmaterial war dünn und schützte nicht vor den Brombeerranken, die wie große Krallen in den Weg hineinragten. Die Dornen verhakten sich in dem Material, rissen Löcher hinein, und schon nach wenigen Metern spürte sie, wie sie auch Löcher in ihre Haut rissen. Es tat weh, aber nicht so sehr, wie es wehtun würde, wenn der Typ sie erwischte.
Der Weg wurde immer abschüssiger und rutschiger. Über ihr schlossen sich die laublosen Kronen der Erlen und Pappeln zu einem löchrigen Dach, das nicht mehr viel vom Mondlicht hindurchließ. Die Sicht wurde schlechter. Dünne Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Sie befürchtete, einen Ast ins Auge zu bekommen, und wurde langsamer. Schließlich blieb sie abermals stehen und hielt sich an einem Baumstamm fest.
Sie lauschte, aber leider waren ihr eigener Atem viel zu laut und ihr Herzschlag zu heftig.
Plötzlich ein lautes Knacken irgendwo über ihr. Also war er ihr doch auf den Fersen, wollte sie nicht einfach so entkommen lassen.
Miriam ließ den Baum los, setzte zum Spurt an, glitt aber aus, bevor sie den ersten Schritt tun konnte. Sie fiel auf den Hintern und rutschte den steilen Weg hinab. In Panik griff sie wild in die Dunkelheit hinein und erwischte einen der unteren Äste eines Strauches. Daran klammerte sie sich wie eine Ertrinkende in einem reißenden Fluss, meinte sogar, Wasser rauschen zu hören.
Über ihr flammte eine Taschenlampe auf. Der Lichtstrahl ging zunächst in die Kronen der Bäume hinauf, wanderte dann abwärts und suchte den Boden ab. Der Mann war vielleicht dreißig Meter entfernt und befand sich halb links von ihr.
Miriam ließ den Ast los und rutschte weiter den Hang hinab. Etwas stach ihr in den Oberschenkel und schrammte schmerzhaft an ihrem Bauch entlang. Schließlich spürte sie eiskaltes Wasser an ihren Füßen, und ihre Rutschpartie war beendet. Sie stand bis über die Fußgelenke in fließendem Wasser, schräg mit dem Oberkörper gegen das lehmige Ufer gelehnt.
Über ihr durchbohrte der Lichtstrahl die Dunkelheit.
Miriam ließ sich weiter ins Flussbett hinab. Sie hielt den Atem an, als ihr Becken ins Wasser geriet. Für ihren von der Flucht erhitzten Körper war die Temperatur ein Schock. Auf Händen und Knien schob sie sich eng ans Ufer gepresst im Bachbett voran, bis sie eine Stelle entdeckte, an der sie sich unter das überspringende Ufer ducken konnte. Es war nur eine flache Nische, in die sie kaum hineinpasste, aber da der Mann von oben kam, würde er sie nicht entdecken, auch nicht mit seiner Taschenlampe. Dazu müsste er schon in den Bach steigen – was er hoffentlich nicht tun würde.
Die Kälte schlug gnadenlos zu, als Miriam kaum eine halbe Minute in ihrem Versteck hockte. Sie begann unkontrolliert zu zittern, zog die Knie eng an ihren Oberkörper und umschlang sie mit den Armen. Über ihr ragten Wurzeln aus dem Lehmboden. Wasser perlte daran herab, tropfte auf ihr Haar, in den Nacken, zwischen die Brüste. Ihre vom Wasser
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